Robert Prosser

Robert Prosser

20.–27.03.2020

Journal aus Beirut

Zu wissen, dass man in nächster Zeit nicht auftreten wird, nirgendwo hinfährt, um beispielsweise als Teil der Recherche ein Interview zu führen, und somit der direkte Kontakt fehlt, zum Publikum oder einem Gesprächspartner, das vermittelt das Gefühl, in einem leeren Raum gefangen zu sein. Die erzwungene Entschleunigung bewirkt Chaos im kreativen Denken, die Ruhe ist erstaunlich gewöhnungsbedürftig. In Alpbach, meinem Heimatort, verbringe ich einen Teil der Zeit mit Seilspringen auf der Terrasse – ein dankbares Mittel, um in Bewegung zu bleiben, zugleich eine ungewollt passende Metapher für den aktuellen Zustand des Auf-der-Stelle-laufens. Wie schreiben in diesem Stillstand, der mit Absage um Absage von Lesungen einhergeht? Immerhin, ich arbeite am Feinschliff für eine Reportage, die diesen Herbst in Buchform erscheinen soll. Mit dem Fotografen Leonhard Pill fuhr ich letzten Sommer durch den Libanon; eine Reise auf den Spuren des Syrienkrieges. Gewissermaßen ähnelt die jetzige Situation jener, in der sich etliche der Menschen befanden, denen wir damals begegnet sind. Die eigene Lage aber gestaltet sich im Vergleich privilegiert; Ausgangssperren und die Verdammnis zum Ausharren in einer Wohnung können bedrohlichere Anlässe haben als die aktuellen Vorsichtsmaßnahmen aufgrund von Covid-19.

Leo und ich landeten kurz vor Mitternacht. Ausgestattet mit Telefonnummern und Mailkontakten, die zu Interviews und Empfehlungen verhelfen sollten, dazu eine Adresse, in der alle Fremde mitklang, die das unbekannte Beirut für uns besaß: Furn esh-Shubbak, es-Sidschil el-Adli. Ein in Deutschland lebender Syrer hatte mir die Anschrift weitergeleitet, unweit davon wohne ein Freund, der uns einen Schlafplatz zur Verfügung stellen würde. Sporadisch erreichten mich in den Tagen vor Abflug Nachrichten dieses gleichsam aus Syrien stammenden Künstlers. Er sei gerade wegen eines Projekts in der Türkei, schrieb er, aber kein Problem, es finde sich eine Lösung. Schließlich erhielt ich eine Telefonnummer und die Anweisung, diese anzurufen, sobald wir an der Adresse eintreffen. Es gebe keine Hausnummern, doch ein weiterer Freund, der ebenfalls in der Wohnung lebe, werde uns im Viertel Furn esh-Shubbak, an der Kreuzung der Straßen es-Sidschil und el-Adli, auflesen.  (1/7)

Die verlassene Straße schlenderte ein korpulenter Typ entlang, gekleidet in Jogginghose und grellorangem T-Shirt. Der Taxifahrer pfiff ihm, er lächelte schüchtern und kam auf uns zu, die Hand ausgestreckt: Tarek, unser neuer Mitbewohner. In der Wohnung stapelten sich auf meterhohen Regalen dunkelgrüne Gläser und Aschenbecher. Er deutete darauf, sagte: Work. Er sprach kaum Englisch, mithilfe einer Übersetzungsapp errieten wir, dass er im Auftrag des abwesenden Künstlers aus gesammelten Wein- und Champagnerflaschen Dekogegenstände schliff. Die Unterkunft entpuppte sich als Umschlagplatz künstlerischen Upcyclings: Das Streugut der Partymetropole Beirut wurde zu Designobjekten, die, so gaben die auf den am Boden gestapelten Kartons notierten Empfangsadressen preis, international Abnehmer fanden. Bis zum nächsten Morgen gebe es kein fließendes Wasser, erfuhren wir. Tarek öffnet einen Schrank, darin mehrere angefüllte Zehn-Liter Plastikbehälter, diese sollten für die Toilette und in der Dusche verwendet werden. No drink, betonte er. Später fläzte er auf dem Sofa, in den Händen ein vollgeschriebenes Heft. Er blätterte darin, starrte in die Luft, seine Lippen bewegten sich. Er bemerkte meine Neugier, hielt mir das Heft entgegen: Listen englischer Wörter, Übersetzungen ins Arabische und grammatikalische Erläuterungen füllten die Seiten. Sein Smartphone vibrierte, eine Nachricht von seinem Vater. In dessen Restaurant hatte Tarek als Koch gearbeitet, enträtselten wir die App-Vorschläge. Spezialisiert auf Hühnchen und Reis, Shawarma und Falafel, nicht weit von Damaskus. Aus dem Kühlschrank kramte Tarek einen in Plastik gewickelten Brocken: From Syria. Eine schwärzliche, glänzende Masse; Honigwaben, mit Anis versetzt. Tarek stellte ein Schälchen Olivenöl und eines mit einer Gewürzmischung auf den Tisch, wiederholte: From Syria. Er riss ein Stück vom Brot ab, dippte es erst ins Öl, danach in das Gewürz, biss hinein, Daumen hoch. Ich versuchte zu erklären, dass ich ähnliches vor Jahren in Palmyra probiert hatte, im Zelt einer Familie, die nachts in den Palastruinen Zenobias Wache hielt, und suchte am Laptop nach dem Ordner mit Fotos, um sie Tarek zu zeigen, Bilder der Grabtürme, des Kastells auf einem Hügel, der Dünen.  (2/7)

A photograph is a reduction of the endless and unmanageable world to a little rectangle, schreibt Dubravka Ugrešić in The Museum of unconditional surrender. Die Aufnahmen aus Palmyra waren ein Beispiel für mein auf mehrere Datenträger, Festplatten und Briefkuverts verteiltes Archiv amateuerhafter Schnappschüsse. Mit Anfang Zwanzig hatte ich begonnen, einen Großteil meiner durch verschiedenste Jobs eingebrachten Ersparnisse für Reisen auszugeben; Ugrešićs rectangles entsprachen meinen Blicken aus Bus- oder Zugfenstern, den zufälligen Begegnungen und Gesprächen, kurzen Berührungen mit der durchkreuzten Fremde. Blieb währenddessen nicht genug Zeit, einen Gedanken niederzuschreiben, versuchte ich, ihn mithilfe eines Fotos provisorisch zu bewahren, im besten Fall ließ sich der Denk- oder eher Gefühlszustand jenes Momentes beim späteren Betrachten wieder entern. Mittlerweile scheint mir, als wären die im Reiseverlauf im Notizbuch festgehaltenen Einträge allerhöchstens bruchstückhaft - hingefetzte Wörter, deren Bedeutung mir in der Gegenwart ein Rätsel ist - und als würden sich die persönlich wichtigen Beobachtungen und Erkenntnisse vorwiegend in diesen geknipsten Erinnerungsstützen finden. In Beirut, als Tarek Leo und mir syrische Spezialitäten auftischte, konnte ich mich nicht des Gedankens erwehren, dass die Reisen eine Art zweites Leben formen, losgelöst von jenem, in das ich mich in Österreich gefunden habe, und dass dieses andere Leben aus ineinander geworfenen Zeiten und Orten und Menschen besteht, ein Chaos an Erlebnissen und Eindrücken, das sich nicht um Chronologie schert, sondern nach Gesetzmäßigkeiten funktioniert, die wie zufällig gesponnen wirken mögen, manchmal aber, überfallsartig, in ihrer ganzen Dringlichkeit erkennbar werden.  (3/7)

Abwechselnd brachen wir mit einer Gabel Stücke vom klebrigen Brocken der Honigwabe, dippten das Brot in das Schälchen mit Gewürzen, und die Erinnerung an Palmyra sponn sich zu einer anderen Reise: 2008 fuhr ich per Bus nach Istanbul und schließlich, als sich der Krieg um Süd-Ossetien beruhigt hatte und die Grenze nach Georgien wieder offen war, über Tiflis nach Armenien. In Yerewan traf ich einen Deutschrussen, Student der Landschaftsarchitektur, der als Teil eines internationalen, EU-geförderten Projektes die Landkarten des südlichen Kaukasus aktualisierte, um, so der Hintergedanke der Auftraggeber, mithilfe neuer, detaillierter Pläne Schigebiete zu errichten oder Wanderwege anzulegen. Im Zuge der Kartografierung habe man in einem als unbewohnt geltenden Tal ein Dorf entdeckt, von dessen Existenz keine offizielle Stelle wusste, so der Student. Die Siedlung war nirgends verzeichnet, die Familien, die sich in den selbstgebauten Hütten eingerichtet hatten, waren nirgends gemeldet. Die Befragung ergab, dass sie aus Nagorno-Karabach stammten und die älteren Männer vor mehr als einem Jahrzehnt im Karabach-Krieg gegen Aserbaidschan gekämpft hatten. Aus ihrer zerstörten Heimat waren sie in dieses Tal gezogen und hatten ein neues, bis zum Auftauchen des Vermessungsteams ungestörtes Leben geführt.  (4/7)

Jahre später, während des Aufenthalts in Syrien, stieß ich in Deir-es-zur auf eine armenische Kirche. Ich trat in den Hof, gegenüber einem Brunnen führte ein Holztor ins Innere des Gebäudes. Vor dem Altar ragte eine steinerne Säule aus dem Boden, deren Spitze in Flammenform gestaltet war. Über Stufen gelangte ich in das unterhalb des Altars gelegene Gewölbe, zum Sockel der Säule. Im Schein der elektrischen Lampen erkannte ich darin eingefügte Knochen. Einer Infotafel zufolge waren sie in der umliegenden Wüste gefunden worden, die einzigen Spuren des ab 1915 vom osmanischen Reich an den Armeniern verübten Genozids. Die Katakomben entpuppten sich als Mahnmal jener Todesmärsche, die bis hierher in den Osten Syriens geführt hatten. Tags darauf, beim Anblick der Grabtürme von Palmyra - die vom IS gesprengt werden würden, wie auch Deir-es-zur und die Erinnerung an die Armenier im Bauch der Kirche - musste ich an die Geschichte vom zufällig entdeckten Soldatendorf denken. Die Worte des Studenten hatten eine anarchische Zelle vermuten lassen, abgeschnitten von der eigentlichen Welt. Das Museum in Deir-es-Zur aber hatte mir vor Augen geführt, dass eine solche Erzählung weit über das Anekdotenhafte hinausging. Armenien, Aserbaidschan, die Türkei und Syrien - der gesamte geografische Raum war auf das Grausamste miteinander verbunden, seit Jahrhunderten bestehende Feindschaften und Bündnisse hallten in den Karabachkrieg der 1990er und bis in die Gegenwart nach. Ich fotografierte die Reste von Zenobias Palastanlage, um den Moment festzuhalten, in dem mir die Ahnung gekommen war, dass ich den Flirt mit dem Backpacker-Lifestyle beenden und stattdessen mehr Sorgfalt in die Recherche stecken sollte. Nicht mehr reisen, um unterwegs zu sein, sondern um die Idee für einen Text mit Hinter- und Untergründen zu versorgen, dieses Vorhaben glich einem feinen Riss im Bild, das man von sich selber hat.  (5/7)

Jede Nacht tauschte Tarek seinen Jogginganzug gegen Jeans und Hemd. Er gelte sich die Haare, winkte, ging bei der Tür hinaus. Einmal erwischte ich ihn bei der Rückkehr. Das Hemd klebte an seinem massigen Oberkörper, er keuchte, war verschwitzt, die Haare hingen ihm ins Gesicht. Ein kurzes Hallo, schon verschwand er in der Dusche. Das Schauspiel wiederholte sich in der nächsten Nacht. Wieder zog er sich um, machte sich fesch, verließ die Wohnung. Was er mache, fragte ich, als er nach einer Stunde schweißbedeckt zurückkehrte. Sports, erklärte er mir. Am nächsten Morgen wurde der Tod Abdelbasset Sarouts vermeldet. Vormals Torwart der syrischen U-17 und U-20 Nationalmannschaft, stellte er sich 2011 gegen Assad. Er wurde zu einem der bekanntesten Gesichter des Widerstands, lieferte diesem mit dem Lied Janna Janna Janna (Paradies, Paradies, Paradies) eine Hymne. Im Verlauf der Kriegsjahre wurde ihm eine ideologische Nähe zu Islamisten vorgeworfen, dennoch, er blieb eine Ikone. Sarout, der Ex-Fußballer und talentierte Sänger, Kommandant einer Rebellengruppe, dessen vier Brüder vom syrischen Geheimdienst getötet worden waren und der selbst mehrere Mordanschläge überlebt hatte. In der Provinz Idlib war er im Kampf gegen Assads Streitkräfte verwundet worden, in einem türkischen Krankenhaus erlag er seinen Verletzungen. Sarouts Tod war beispielhaft für die Lage in Syrien, einer nach dem anderen starben in einem seit Jahren andauernden Krieg die vormaligen Helden der Revolution, sie krepierten in einem kaum durchschaubaren Konflikt verschiedenster Armeen und Allianzen, und was blieb war die Gewissheit, dass Assad nicht gestürzt werden konnte. (6/7)

An einem Sonntag kochte Tarek auf. Es schien eine erfreuliche Abwechslung in seinem Alltag zu sein, den er großteils in der Wohnung verbrachte. Er stellte eine große Pfanne auf den Tisch, vier Hühnchenschenkel auf mit Gewürzen verfeinertem Reis. Al-Mandi, diktierte die App, eine jemenitische Spezialität, die Tareks Vater im Familienrestaurant anbiete. Es schmeckte fantastisch, schon der erste Bissen ließ daran keinen Zweifel. Warum er nicht auch in Beirut als Koch arbeite, fragte Leo, und am Display des Smartphones erschien: They hate Syrians. Ein Übersetzer hatte uns Tareks Werdegang erklärt: Seit einem Jahr lebte er im Libanon. Erst war er in Baalbek bei einem Cousin untergebracht, die Hisbollah aber erließ eine Ausgangssperre für Syrer, es war, sagte er, eine schlechte Zeit und ein schlechter Ort für ihn. Beirut sollte die nächste Station werden, der Wohnungsbesitzer war ein Freund seines Vaters. Grund für die Flucht war die Einberufung ins Militär. Er wollte nicht für Assad kämpfen; um dem Dienst an der Waffe zu entgehen, musste er sich vier Jahre im Ausland aufhalten und nach seiner Rückkehr rund 8000 Dollar zahlen. Drei Jahre hatte Tarek noch auszuhalten, dann könnte er sich freikaufen. Er schliff Glas, kochte für die allfälligen Gäste. Auf eigene Faust studierte er Englisch und ging jede Nacht, wenn die Straßen verlassen waren, fünf Kilometer laufen. (7/7)

Literaturhaus am Inn – Lieben, Sprechen, Fühlen, Genießen
Josef-Hirn-Straße 5
6020 Innsbruck

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