Neulich fragte mich jemand, ob es Sinn macht, Tagebuch zu führen. Das mache sehr wohl Sinn, antwortete ich. Es ist bekanntlich die wirksamste Waffe gegen die allgemeine Idiotie, die unsere Spezies begleitet, seit diese von den Bäumen heruntergestiegen ist. Man kann sogar eine Rechnung aufstellen: Je mehr Tagebücher geführt werden, umso klüger wird die Menschheit. Leider ist man neulich stattdessen auf das Internet umgestiegen. Nicht, dass das nicht uninteressant wäre, aber hätte uns das Internet klüger gemacht, hätten wir es längst gemerkt. Allein aus diesem Grund begab ich mich auf die Suche nach der augenblicklichen Dummheit und ziemlich schnell war mir klar, dass die meiste Dummheit in der Politik sitzt. Da hat man zwar zum Glück den Oberidioten der letzten vier Jahre in den USA abgewählt, aber immer noch geistert seine Intelligenz durch den Äther. Als eine Journalistin Donald Trump vor einem Jahr fragte, ob er schon seinen IQ überprüft hätte, schmatzte der Präsident der USA zufrieden und sagte: Alles ok. Ich bin völlig gesund. Die Ärzte haben mich untersucht. Ich habe keinen IQ.
Aber nicht nur in Amerika bereiten Politiker einem Vergnügen. Sogar hier in Österreich wird auf allen Kanälen neulich ein Märchen gesendet unter dem romantischen Titel: „Der Kurz und sein Blümel“. Warum wohl? Der Bundeskanzler lässt sein Smartphone praktisch nie aus der Hand. In so manchem Bürger steigt langsam der Verdacht auf, dass der Kanzler selbst von einer höheren Macht regiert werde.
Am liebsten ist mir sowieso der polnische Vizeminister aus der momentanen Regierung PIS, die traditionell immer wieder große Geister hervorbringt: Er hatte in einem Anfall von wissenschaftlichem Interesse neulich verkündet: „Ich bevorzuge den Mond, denn er scheint in der Nacht, wo es dunkel ist. Die Sonne hingegen scheint am Tag, wo es sowieso hell ist.“
Zum Glück gibt es auch gute Nachrichten. Und sie kommen, welch Wunder, nicht von Menschen, sondern von einer anderen Spezies. Aufgrund des Ausbleibens von Touristen hatten endlich die Pandas im Zoo von Hong Kong ungestört Sex. Das wurde schnell von den Medien aufgegriffen und schon war wenig später rein zufällig das Wort Pandemie in aller Munde. Schließlich kommt es ja vom Panda, wie ein weiteres politisches Genie aus Indien seinen Landsleuten via Nachrichten verklickert hatte. So weit so gut. Wir sehen uns morgen wieder.
Die C-Krise setzt nicht nur Gastwirten und Friseuren zu, sondern auch Schriftstellerkollegen. Ich meine nicht finanziell, wir waren vorher auch schon im Keller. Aber neulich hat ein Kollege, der für seine Sanftmut bekannt ist, die Nerven weggeschmissen und mir am Telefon einen Vortrag über die Lage der momentanen Literatur in Österreich gehalten. In einem erstaunlich herben Ton informierte er mich zuerst über die „Literatengenerationen“.
„Ich weiß nicht, was mich mehr ärgert, die Jungen oder die Alten. Ich glaube die Alten“, beschwerte er sich. „Die liegen nur noch auf der faulen Haut. Schreiben immer den gleichen Scheiß und glauben, es ist Weltliteratur. Dabei geben sie nur dem Wort Wiederholung nur eine neue Dimension.“
Dann ging er fließend zur jungen Literatur über: „Aber die Jungen sind auch nicht besser. Die haben ja nichts zu sagen, also graben sie in der Familie irgendeinen Nazionkel aus oder einen Großvater, der sich auf dem Bauernhof im Stall erhängt hat, und los geht’s. Sie laden sich dieses fremde Unglück, weil sie ja selber noch keins haben, auf den Rücken und tragen es 300 Seiten lang und wundern sich, dass sie keinen Nobelpreis kriegen.“
Bist du nicht ein wenig zu streng?“, gab ich zu bedenken, weil seine Stimme anfing, sich gefährlich zu überschlagen. „Im Gegenteil, ich bin viel zu nett. Und die Migrantenliteratur erst, immer die gleiche Leier. Ein Asylant wird von allen verfolgt, gedemütigt und landet unter der Brücke, wo er Migrantentränen vergießt, die ihm irgendeine Caritasblondine trocknet. Na wenigstens kommt dort ein bisschen Sex ins Spiel.“
„Und was machst du jetzt so angesichts dieser Katastrophe?“, versuchte ich ihn abzulenken. „Ich schaue Netflix“, antwortete er. „Dort ist die Dummheit wenigstens offiziell“, er machte eine Pause, „aber lange halte ich das auch nicht mehr aus. Wie wäre es, wenn wir uns mal besaufen?“
„Gerne“, sage ich. „Treffen wir uns unter einer Migrantenbrücke oder vor der Albertina?“
„Das ist scheißegal. Hauptsache du bringst diesen guten polnischen Wodka mit, nach dem ich zwei Tage lang blind war und mir das Ganze nicht mehr ansehen musste.“
Zeit zum Friseur zu gehen. Meine Haare sind so lang wie noch nie. Ich könnte mir sogar schon einen Pferdeschwanz machen. Nur leider graut es mir davor. Meine Nachbarin sagt, aber wieso kein Pferdeschwanz – dann sehen Sie wie ein Künstler aus. Ich bin theoretisch schon einer, ich muss nicht auch noch so aussehen, halte ich dagegen. Beim Friseur ist es lustig. Meine Friseurin kommt aus dem Balkan, was ihr eine gewisse Lockerheit gibt, die den einheimischen Kollegen abgeht. Zum Beispiel macht sie keinen Freitest und verlangt auch keinen von den Kunden. Ich sitze also da und beobachte, wie das Haar verschwindet. Allerdings nur verdächtig auf einer Seite. Auf der andren sehe ich aus wie Pippi Langstrumpf, auf der neuen wie ein Jünger der FPÖ-Jugend. „Wollen Sie nicht auch die andere Seite schneiden?“, werfe ich vorsichtig ein. „Ach so“, erschrickt meine Friseuse. „Wie konnte ich das nur übersehen“, sie schaltet auf die andere Seite und macht mir ein Versöhungsangebot: „Wollen Sie auch einen Whiskey? Ich habe eine Flasche zwischen den Shampoos versteckt.“
„Warum nicht?“, antworte ich und los geht’s. Mit jedem Schnips brauche ich ihn einen Schluck mehr. Am Ende kratzen wir irgendwie die Kurve. Ich sehe aus wie ein polnischer Priester, oder einer seiner Ministranten. Alles besser als ein Künstler. „Wollen Sie noch ein bisschen bleiben?“, fragt die Friseuse. „Kurt kommt gleich.“ Wer ist Kurt, frage ich. „OH Kurt ist toll“, lautet die Antwort. „Er sorgt für das seelische Gleichgewicht.“
Naja, warum nicht. Ich bleibe. Der Whiskey funktioniert inzwischen hervorragend. Mindestens so wie Kurt. Aber dann wird’s ernst. Kurt kommt hinein. Braungebrannt, Glatze und noch ein paar Attribute schwerster Esoterik. „Komm her, ich weiß, was dir fehlt“, sagt Kurt, obwohl er mich das erste Mal im Leben sieht. Wir gehen nach hinten, setzen uns auf eine Bank und Kurt nimmt eine Art Taschenlampe heraus und leuchtet uns damit ins Gesicht. Gleichzeitig summt er etwas. Frischgeschoren und frischbetrunken lasse ich mich berieseln. Es ist Corona Time, tröste ich mich. Davon wirst du deinen Enkeln erzählen. Falls natürlich welche kommen. Zuerst auf die Welt und dann zu dir. „Fertig“, sagt Kurt. „Du bist geheilt.“ „Amen“, sage ich und schäme mich im selben Moment. Dagegen kann man nichts machen. Wenn man katholisch aufgewachsen ist, tritt man immer wieder in das gleiche Fettnäpfchen.
Heute ist mir nach Lyrik. Die Prosa des Lebens hält nun mal nicht das, was sie mal versprach, um es mal geistreich auszudrücken. Zum Glück sind zum Beispiel die Polen nicht nur gut im Skispringen, sondern auch im Gedichteschreiben. Ich selbst bin ein miserabler Dichter, wodurch ich mich nicht mit dem Verfassen von Gedichten plagen muss, sondern mir gleich das greife, was mir gefällt. Und so habe ich mir zwei Gedichte zur Brust genommen. Und zwar von Wislawa Szymborska aus einem Suhrkampband. Die Übersetzung war aber ziemlich schlecht, also übersetzte ich sie extra jetzt noch mal ins Deutsche: Das erste handelt von Zeiten, als unsere Spezies nichts zu lachen hatte und trotzdem irgendwie mehr vom Leben hatte. Wenn man es liest, wird alles gleich so angenehm ernst und wichtig. Und man fragt sich, warum kam ich nicht in der Steinzeit zur Welt. Hier der Beweis, bitteschön:
Das kurze Leben unserer Vorfahren
Wenige wurden dreißig
Das Alter war ein Privileg der Steine und Bäume
Die Kindheit dauerte wie die Welpenzeit der Wölfe
Man musste sich beeilen, mit dem Leben fertigwerden
Bevor die Sonne untergeht,
Bevor der erste Schnee fällt
Dreizehnjährige Kindergebärinnen
Vierjährige Fährtensucher den Vogelnestern im Schilf
Gerade waren sie noch nicht da, schon sind sie weg
Die Enden der Unendlichkeit wuchsen schnell zusammen
Hexen kauten Verwünschungen
Noch mit allen Zähnen der Jugend
Unter dem Auge des Vaters wurde der Sohn zum Mann
Unter der Augenhöhle des Großvaters wurde der Enkel geboren
Aber sie zählten sowieso keine Jahre
Sie zählten Netze, Töpfe, Waldhütten, Messer
Die Zeit so großzügig zu irgendeinem Stern am Himmel
Streckte ihnen eine fast leere Hand entgegen
Und zog gleich zurück, als täte es ihr leid
Noch ein Schritt, noch zwei
Entlang des schimmernden Flusses
Der aus der Dunkelheit kommt und in ihr verschwindet
Es gab keinen Augenblick zu verlieren
Keine Fragen für später, und keine verspäteten Erleuchtungen
Sofern sie nicht gleich kamen.
Die Weisheit konnte nicht auf graue Haare warten
Sie mußte klar sehen, bevor die Klarheit kam
Und jede Stimme hören, bevor sie erklang
Das Gute und Böse
Sie wussten wenig darüber, und alles
Wenn das Böse siegt, verstummt das Gute
Wenn das Gute zum Vorschein kommt, lauert das Böse im Versteck
Das eine wie das andere ist nicht zu bezwingen
Daher wenn Freude, dann mit einer Brise Furcht
Wenn Verzweiflung, dann nie ohne leise Hoffnung
Das Leben, wie lang auch immer, wird immer kurz sein
Zu kurz, um etwas hinzuzufügen.
Und hier ist das zweite Stück: Es ist eine Hymne an die polnische Frau bzw. an die Frau überhaupt. So oder so: Wir haben eindeutig zu wenig Lyrik im Umlauf.
Das Porträt einer Frau
Sie muss so sein wie man es will
Sich immer ändern, damit sich ja nichts ändert
Das ist einfach, unmöglich, schwer, wert ausprobiert zu werden
Ihre Augen sind, wenns sein muss, mal blau, mal grau
Schwarz, lustig, grundlos voller Tränen
Sie schläft mit ihm wie die erst beste, wie die einzige auf der Welt
Gebärt ihm vier Kinder. Keine Kinder. Eins
Naiv, gibt ihm aber den besten Ratschlag
Schwach, erträgt es aber
Hat dafür im Moment keinen Kopf – dann wird sie ihn haben
liest Jaspers und Frauenmagazine
weiß nicht wozu diese Schraube und baut eine Brücke
Jung. Wie immer jung. Noch immer jung
Hält in der Hand einen Sperling mit gebrochenem Flügel
Eigenes Geld für eine weite und eine lange Reise
Ein Fleischmesser, einen Kopfumschlag und ein Gläschen Wodka
Wohin läuft sie denn jetzt, ist sie nicht müde?
Aber nein, nur ein bisschen, schrecklich, macht doch nichts
Entweder liebt sie ihn, oder ist nur stur
Aufs Gute komm raus und auch aufs Schlechte, um Himmels Willen
Zum Schluss muss ich eines Mannes gedenken, den man viel zu wenig kennt. Und das, obwohl er sehr bekannt war und heuer 100 Jahre alt geworden wäre. Aber vor allem, weil er mir beigebracht hat, dass Natürlichkeit und Bescheidenheit nicht unbedingt immer das Resultat gekonnter Heuchelei sein muss. Sein Name ist Stanislaw Lem. Lem war seinerzeit so berühmt, dass als er in Berlin einen Polizisten nach der Straße fragte, dieser ihm umgehend den kürzesten Weg ans Ziel zeigte. „Aber dann müsste ich gegen die Einbahn fahren“, staunte Lem. Der Polizist fackelte nicht lange und antwortete: „Kein Problem. Sie dürfen gegen die Einbahn fahren, Maestro.“
So viel Literaturkenntnis findet man heute nicht mal unter Literaturkritikern. In meinem letzten Buch (Zeitlupensymphonien...) gab ich genau Auskunft, wie ich ihn kennengelernt hatte. Es war in Wien und ich schneite als Heizungsableser zufällig in seinem Haus vorbei. Von da an wurde ich jeden Dienstag zu Mittag eingeladen, und durfte für ein paar Stunden am Leben eines berühmten Mannes teilnehmen. Ich habe sie alle als „Sternstunden“ festgehalten. Hier zum Abschied eine dieser Sternstunden, der ich beiwohnen durfte:
Hier spricht Richard Gere
Wir sind wieder einmal beim Dessert angelangt. Es gibt Kompott mit Zwetschken aus Maestros Hietzinger Garten. Mittendrin läutet das Telefon und Maestro hebt ab. Ein Anruf auf Englisch und offenbar aus Hollywood. Ein Mann namens Richard Gere ist dran. Er möchte die Rechte für den Roman Solaris kaufen.
Lem jongliert mit dem Zwetschkenkompott in der einen und dem Hörer in der anderen Hand. Er nickt wie ein Lehrer, dem gerade ein aufgeregter Schüler erzählt, dass er ein Stück Gold auf der Straße gefunden hat. Dann antwortet er in seinem polnischen Englisch: „Ich freue mich, dass Sie die Rechte von Solaris kaufen wollen. Aber darf ich fragen, wer Sie sind?“
Am anderen Ende der Leitung herrscht plötzlich Totenstille. Richard Gere hat die Frage nicht verstanden.
„Ich bin Richard Gere“, wiederholt er.
Lem wird daraufhin ungeduldig: „Sind Sie ein Produzent oder ein Regisseur?“
„Nein“, antwortet Richard Gere verunsichert. „Eigentlich bin ich Schauspieler.“
„Tatsächlich? Da gratuliere ich aber“, sagt Maestro und legt auf. Dann kommt er wieder zurück an den Küchentisch, hebt das Kompottglas in die Höhe und beschwert sich bei seiner Ehefrau: „Das Kompott ist heute irgendwie nicht süß genug. Findest du nicht?“
Ich schaue mit offenem Mund von einem zum anderen und überlege fieberhaft, wem ich das als erstes erzählen soll. Ich finde niemanden, der mir das glaubt.
Und ein großes Ciao an alle, die mir bis hierher gefolgt sind. Wir sehen uns hoffentlich bald analog wieder!