Peter Hodina

Peter Hodina

08.–13.02.2021

„Du Duden auf Google!“

Liegt es am Alter, denn ich neige dem Sechziger zu, zwar noch zwei Jahre, aber meine Fünfziger haben Schlagseite und werden sinken, dass ich an mir und mehr noch andere an mir gewisse Ausfallserscheinungen bemerken, oder liegt es an diesen sich über Wochen und mittlerweile Monate erstreckenden Lockdowns?

Sich selbst, lebt man überwiegend allein, verzeiht man manches, richtet sich mit bestimmten Defekten ein, wenn man zu dem einen Typ gehört. Das Gedächtnis war einmal besser, aber wir haben die Krücken Google und Wikipedia. Oder weil wir diese Krücken benutzen und seit Jahren es zur Gewohnheit geworden ist, sie zu benutzen, haben wir als Archivare unserer selbst nachgelassen. Denn was ist das für ein Archivar, der immer nur angeben kann, wo irgendwie etwas steht, statt exakt? Der zwar ein erstaunlicher Finder immer noch ist, dabei aber ein Sucher, Tapper? Der wie ein Zauberkünstler mit einem Griff aus dem Haufen ein Gesuchtes herbeiapportiert?

Solche Punkte machen wir noch. Wie gealterte Tennisstars, die ihre Partien meist nicht mehr gewinnen, aber in manchen Aktionen noch ihre frühere Klasse verraten. Es wird alles zur Kompensatorik.

Das ist der eine Typ wie gesagt; der andere lässt sich und anderen, vor allem dem Zusammenlebenspartner solche Dinge nicht durchgehen, erkennt sie, macht ihn aufmerksam auf Fehlleistungen, ungenaue Ausdrucksweisen, die sich häufen, und je mehr der Eine in den kritischen Blick des Anderen gerät, desto mehr häufen sich für gewöhnlich seine Fehler, die er wie aus einer Obststeige die Äpfel vor die Füße des Anderen kugeln lässt, während seine Arme vom Die-Treppen-Hinauftragen schwächeln.

„Es heißt die Treppe hinaufgehen, nicht die Treppen.“ So der andere. Ersterer ist sich nicht sicher, möchte widersprechen, sein Lebtag lang hat er „die Treppen hinaufsteigen“ gesagt, wie in Österreich umgangssprachlich üblich, und jetzt soll er seine Ausdrucksweise ändern. Er murrt. Greift zum Handy, ahnt den Permiss, dass beides erlaubt ist, der andere untersagt es ihm, verlässt verärgert den Raum, wirft ein Holzstück in den Ofen: „Ich habe genug von diesen geschwätzigen Stammlern und diesen Rechthabern.“

„Ich bin immer nur ein defensiver Rechthaber“, verteidige ich mich direkt weinerlich, „du aber der offensive. So gut wie nie korrigiere ich dich, du hingegen mich, täglich mehr-, nein vielmals! Und einmal suche ich zur Abwechslung einen Punkt auch für mich herauszuschlagen und greife, um es zu belegen, nach dem Duden auf Google.“

„Du Duden auf Google!“, spottet der andere.

Nasenbedeckung durch Donald Duck

Es sind immer ähnliche Spazierwege, die ich einschlage, von oben und im Gesamtverlauf gesehen meist in Form einer Brille, wie mir die Funktion Zeitachse auf dem Handy zeigt, 13 bis 14 Kilometer, wobei ich den Kommunalfriedhof quere. Einer der Eckpunkte ist eine umfunktionierte Telefonzelle, aus der Bücher entnommen werden können, und so habe ich kürzlich die einmal bei einer Buchgemeinschaft erschienene Reihe Bibliothek der Weisheit um einige zusätzliche Bände ergänzen können.

In der Gneiser Spar-Filiale lasse ich mir zwei Semmeln mit einer Wurst meiner Wahl belegen, kaufe eine Dose Red Bull und eine Flasche giftblaue Powerade, aus welcher ich im Gehen trinke, während ich, binnen Minuten spürbar gestärkt, die dreihundert Meter zur Bücherzelle hinübermarschiere. Nicht nur packte ich dort das Ägyptische Totenbuch ein, sondern auch eine Sammlung altägyptischer Weisheitssprüche; in meinem Rucksack befand sich zusätzlich der neueste Band von Walt Disney’s Lustigen Taschenbüchern, Im Land der Pharaonen, den ich wegen des Goldpressdrucks auf dem Umschlag, der einen Donald Duck in Tutanchamun-Maske zeigte, in der Filiale vorher gekauft hatte.

Wieder zuhause lag ich auf meinem Bett und las abwechselnd in den ägyptischen Weisheitsbüchern und in besagtem Donald Duck. Das letzte Mal, dass ich Comics dieser Art gelesen hatte, dürfte 1986 gewesen sein. Mich beruhigt der Geruch dieser Bücher, der seit meiner Kindheit derselbe ist, das raue Papier, ich beschnupperte das Produkt, hielt die Seiten schräg unters Nachtkästchenlicht, befühlte sie. Irgendwie wollte mein Verstand aber zunächst diesen Bildgeschichten nicht folgen, er war über sie und auch ihr Format hinausgewachsen, so betrachtete ich das für 10 € gekaufte Druckwerk als solches, wie ich es als Kind nie betrachtet hatte. Als Kind wollte ich immer sogleich hinein in die Geschichten oder zumindest in die Bilder und hatte sicher dutzendmal ein und dieselben Bücher und Hefte gelesen, mich dabei beruhigt und dazu Schnitten oder Erdnussflips in mich hineingestopft.

Manche meinen, das Druckwerk würde stinken, wie auch, dass die Kronen Zeitung stänke, aber mir gibt dieser Geruch die sinnliche Gewissheit, dass meine alte Welt noch steht, jederzeit wiederabrufbar ist, dass Schulen und Universitäten und allerlei Lebenslehrer ihre oft zudringliche Mühe an mir vergeblich verschwendeten, selbst mir verabreichte Traumata in diese meine Tiefe der Plattheit nicht ausreichend griffen, nicht endgültig schnitten, um mir ein für allemal solch Kinderbelustigung aus den Händen zu schmettern.

Und so setze ich mich nach allem Abgeräumtwerden wieder auf, es ist immer so gewesen, man hat mich abgeräumt, ich habe mich wieder aufgebaut, aus den gleichen Elementen, was sicher nicht großartig und auch nicht besonders intelligent ist. So habe ich mir nie die Weisheitsbücher aus den Händen und aus dem Hirn schlagen lassen, ebenso nicht den Donald Duck, aber über den Tod trägt Letzterer nicht. Ich dachte an den großen Leibniz, als ich mir den Donald Duck zur Probe aufgeschlagen über die Nase legte, um den Geruch dieser spezifischen Druckerschwärze einzuatmen, wie ich es als Kind schon getan hatte, dass Leibniz, als er starb, sich seine Schlafmütze über die Augen gezogen hatte.

Immerhin wich genau an dem Tag, als ich mir wieder Disney zurückerschloss, der andere Donald endlich von seinem Amt als POTUS.

"Verwirrungen um ein Headset"

Hodina Porträt

Der Fußmarsch mit dem jungen Koch, der mich Mitte April letzten Jahres um den Wallersee führte, wohl 20 Kilometer, von Henndorf weg, als die Corona-Maßnahmen des ersten Lockdowns noch nicht gelockert waren, ist im Rückblick ein Höhepunkt des an äußeren Ereignissen armen 2020er Jahres gewesen. Wir hatten zunächst die hellblauen Masken auf, als wir von Henndorf aus starteten. In der Konditorei dort hatte mein Begleiter mehrere Stücke Tiramisu sowie ein Sixpack Bier netterweise für uns als Wegzehrung gekauft. Wir marschierten am Ufer entlang, wo verwaiste Wochenendhütten standen, dieser „Strand“ lag wie ausgestorben da, die Luft war kalt, der Frühling hatte sich noch nicht durchsetzen können. Mein Begleiter war viel zu leicht und luftig angezogen: in kurzer dünner Hose, mit T-Shirt, er schlotterte, ich hatte zufällig zwei Pullover und zwei Mützen mit dabei, ohne aber eigens an ihn gedacht zu haben.

Wie wir am See entlanggingen, er inzwischen mit diesen Sachen aus meinem Rucksack zusätzlich bekleidet, hatte ich das Gefühl, hier zum ersten Mal zu gehen, was aber nicht stimmen konnte, und erst nachdem wir den See umrundet hatten und ich auf der Heimfahrt nach Salzburg mich befand, wollte ich  mich wieder an vormalige andere Touren erinnern, sei es noch mit den Eltern, mit der Schulklasse oder alleine, die mich um den See herumgeführt haben mussten, was aber inzwischen so weit zurücklag, als hätte es in einem früheren Leben stattgefunden. Undeutlich zeigten sich die Knospen von nachträglich hineinkonstruierten Déjà-vus, um nur allzugerne aufzuspringen,  wobei ich mich doch stets als Erinnerungskünstler empfunden hatte, hier jedoch eine abermalige Probe des Entschwindens der Jahre geliefert bekam, ebenso wie ich mich auf den wenigen alten Fotos, so deutlich sie mir vor Augen zu stehen schienen, dass ich sie jahrelang nicht mehr betrachten zu müssen glaubte, kaum mehr mit Überzeugung identifizieren kann, was aber nichts macht. Dass diese Hüllen aus verschiedenen Vorleben wegfallen, sich auflösen, ist nur naturgemäß, ist keine Katastrophe, wobei meine diesbezügliche Grundeinstellung, meinem Leben gleich, deutlich in zwei Großabschnitte zerfällt: die Zeit, in der ich alles tat, um mich nicht zu verändern (eine sehr weit gefasste Jugendzeit), und die andere Zeit, in der ich dem Auseinanderdriften freie Fahrt lasse und förmlich befriedigt darüber bin, wenn ich mich auch äußerlich verändere, ja am Ende mich auflösen werde – und sei es in die Atome, wie Mark Aurel in den Selbstbetrachtungen geschrieben hatte.

Die Zeit, sich Lehrern auszusetzen, ist vorbei, wenn man nicht nur Hitler bald um zwei Jahre überlebt und auch Thomas Bernhard wenigstens nach Wochen überholt hat, denn Bernhard war mit Achtundfünfzig gestorben, drei Tage nach seinem Geburtstag. Wenn noch Lehrern sich aussetzen, dann ganz jungen, sage ich mir, denn mit den älteren hatte ich kein Glück. Und es ist der größte Vertrauensbeweis von mir notorischem Nichtkoch, wenn ich mir von einem Jungkoch doch noch Kochen beibringen lassen würde, zumal ich erfahren musste, dass Kochen mit Macht einhergehen kann.

Um dem Jungen mich anzuähneln, wollte ich genau solche Kopfhörer haben wie er, hatte sie vor Weihnachten aus der Slowakei bestellt, sie trafen nie ein, was ich auf Corona zurückzuführen geneigt war. Nicht vergessen war ich worden, denn ein nicht mehr erwarteter Anruf verhieß mir die Zustellung des Headsets an meine Adresse. Es freute mich nicht wenig, die Rechnung war lang schon bezahlt, der Anbieter aber gilt, wie Stimmen im Internet zeigen, als unzuverlässig.

Die österreichische Post würde mir das Stück, das mich dem Jungkoch magisch verähnlichen hätte mögen, die Woche noch zustellen, hieß es, und prompt bekam ich wenig später eine Mail von der Post, die Sendungsverfolgung betreffend. Nicht erinnere ich mich, je der Post meine Mail-Adresse durchgegeben zu haben, aber das kann täuschen. Ich freute mich nicht wenig, endlich würde es klappen, aber, obwohl ich zu Hause war, wurde bei mir nicht geläutet, ich rauchte am Balkon, danach blickte ich abermals auf die Sendungsverfolgung und musste sehen, dass eine halbe Stunde vorher die Zustellung direkt an meiner Haustür gescheitert sein musste, weil ich verabsäumt hatte, die Top-Nummer dazuzuschreiben, zumal mich die Postsachen sonst trotzdem erreichen. In dem Fall leider nicht.

Ich rief den Kundendienst an, bekam die Auskunft, das Paket würde in die Slowakei zurückgeschickt, das sei nicht mehr umzudirigieren, was ich einfach nicht glauben wollte; somit probierte ich herum, die App der Post herunterzuladen, was einige Zeit beanspruchte und dazu wurden meine Daten, wurde mein Reisepass gebraucht, um meine Identität zu verifizieren. 2500 Sekunden, also mehr als eine halbe Stunde, dauerte die Wartezeit, bis das entsprechende Unternehmen sich per Videoschaltung meldete. Auftraggeber war die Post, die ja meine Daten anscheinend hatte. Trotzdem musste ich mich einer längeren Prozedur jetzt unterziehen, den Pass ans Fenster halten, mehrmals hin- und her-, auf- und abwenden, meine Finger einzeln über den Pass, dessen Laminierung das Licht von draußen zurückreflektierte, streifen lassen, ich sah den jüngeren bärtigen Herrn mir diese Anweisungen Schritt für Schritt geben, wobei ich mich sicher unbeholfen angestellt haben musste.

Mein dagegen Appellieren, dass die Post doch ohnehin meine Daten hätte, half nicht, sie waren vor der Tür gestanden mit dem Paket und wieder abgefahren, ich wollte es umlenken, warum nicht einfach es in einer Abholstation deponieren oder in einer Postfiliale zur persönlichen Abholung bereithalten? Ich wiederholte mich, sah mich selbst auf dem Handy, wie ich dem Herrn im kleineren Fenster, der nur seine Arbeit verrichtete, dies erklärte, wobei ich mich selbst verabscheute, meine sich kringelnden ergrauten paar Haare, mein gealtertes Gesicht, mein Ausgesetztsein, den ganzen morgendlichen Unsinn, diesen Knäuel an Hyperbürokratie.

„Wegen des Datenschutzes“, sagte der an sich ja geduldige Mensch am anderen Ende. „Aber wessen Daten sollen hier geschützt werden?“, wandte ich ein, „die Post hat ungefragt ja meine Daten, wie der zugestellte Sendungsverlauf mir bewies.“

Nichts half es, es wurde mir nach Ende der tölpelhaft umständlichen, steinzeitlich anmutenden Identifikationsprozedur eine sogenannte TAN-Nummer durchgegeben, die solle ich eingeben, danach würden mir „weitere Fragen zu meinem Leben gestellt“ werden, was noch alles? Doch die TAN-Nummer war falsch oder inzwischen in jenen langen Minuten der Umständlichkeit wieder abgelaufen, der Kontakt riss ab, alles umsonst, ich hätte mich abermals eine halbe Stunde in die Warteschleife zu begeben gehabt.

Und was war das Ergebnis all dieses angeblichen Datenschutzes? Dass jemand anderer jetzt meinen ganzen Pass mit allem Drum und Dran sowie meine Finger und meine Visage hat ablichten können, und ich hatte mich vorher noch per Anklicken als so freundlich erklärt, dass der mit mir unternommene Film zu Schulungszwecken verwendet werden dürfe. Datenschutz? Sie haben von mir alles – und ich nichts.

Der Überforderungskonservative

Es ist ein Umkreisen von Themen, mitten in der Nacht im Bett oder vormittags im Eisregen, es sind die alten Themen, die man durchkaut, Vergänglichkeit, Zeitvergehen, Akzeleration der Jahre, Lösungen, bisher niegekannte, will man sich einbilden gefunden zu haben, jahrzehntelange Verranntheiten beendet, aber es geschieht verdächtig zu oft, wie im Turnus, dass all diese Knoten aufknüpfbar scheinen, verriegelt gewesene Tore entriegelt. Ein System der Psyche, eine Weltlandschaftskarte wird überflogen, man glaubt, nicht nur der Lösung des eigenen Rätsels, sondern der Lösung des Rätsels an sich nahezusein.

Dies seien Gehirnvorgänge, biochemische, physiologische, hormonelle Prozesse, sagen manche, vordem nannte man es Gedankenflucht, und würde die zum Dauerzustand, sei dringend Therapie anzuraten, jedoch die Poetinnen und Poeten sprechen von Reverié, Träumerei, und es gibt auch Musikkompositionen, die so heißen, wie überhaupt das, was in Musik sich bewegt, den romantischeren Naturen nur, wenn überhaupt, sehr behelfsweise sich in die gewöhnliche Sprache übersetzen lässt. Ist es ein Lied, das vertont wird, ist insofern in dem Lied als Sinngebilde Halt, aber das freie Schweifen, das nicht einmal ein Abschweifen von etwas ist, sondern ein Schweifen an sich, zieht sich den Vorwurf der Haltlosigkeit zu. Es hieße, aus dem Leeren Leeres mit einem Sieb zu schöpfen.

Wir meinten, der Frühling würde beginnen, doch der Winter ist zurück, eisig, und wir hatten noch nicht bedacht, dass es auch schlicht und ergreifend Wetterfühligkeit sein könnte, nicht Seelisches, sondern allenfalls Seelenresonanz auf äußere, in dem Fall meteorologische Vorgänge. Was am Morgen beim Aufwachen noch beweglich war, ist abends, da es noch zur Niederschrift des Textes kommen muss, erstarrt; und ich sah gestern im Fernsehen einen Wasserfallkletterer, der ohne Sicherung sich an den großen Zapfen wagte, wobei jeder Fehltritt ab einer gewissen Höhe den Tod zur Folge hätte.

Ich sage provisorisch „Rilke“, den ich noch immer viel zu wenig kenne, als wäre Rilke der Platzinnehalter, Platzbehaupter eines solchen Denkens, eines reflexiven Fühlens, einer Reflexion, die zugleich Fühlen, und eines Fühlens, das zugleich Reflexion wäre. In einem Brief an Lou Andreas-Salomé schrieb er im Juni 1914 aus Paris: „Ich bin auch so heillos nach außen gekehrt, darum auch zerstreut von allem, nichts ablehnend, meine Sinne gehen, ohne mich zu fragen, zu allem Störenden über, ist da ein Geräusch, so geb ich mich auf und bin dieses Geräusch, und da alles einmal auf Reiz Eingestellte auch gereizt sein will, so will ich im Grunde gestört sein und bins ohne Ende.“

Willy Hellpach, dieser vielseitige, vergessene Mann aus Schlesien, 1877-1955, verfasste schon 1911 ein Buch über Die geopsychischen Erscheinungen mit dem Untertitel Die Menschenseele unter dem Einfluss von Wetter und Klima, Boden und Landschaft. Der Mann war Psychologe, Arzt, Journalist und Politiker, kandidierte 1925 bei der Reichspräsidentenwahl für die liberale DDP, die Deutsche Demokratische Partei. Ohne Vater aufgewachsen, sehen wir ihn wiederholt als Knaben riesige Blumensträuße pflücken und den Frauen überreichen, was wir seinen kaum mehr gelesenen und höchstens noch antiquarisch erhältlichen Lebenserinnerungen entnehmen können.

Was Hellpach auszeichnete und warum ich ihn erwähne, war sein Mut zu eigenschöpferischer Begriffsbildung; er machte sein eigenes Leben und Erleben zum Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion, womit er kein Einzelfall war, aber wie mit den Blumensträußen verfuhr er auch hier: es sind Büchersträuße, die er produzierte, und er ist, ohne sich einer Richtung zuordnen zu lassen, ein schöpferischer und sprachgewandter Theoretiker gewesen, dessen geistige Spannweite von einer panentheistischen Metaphysik bis zur Konzeption einer Pax Futura für die Nachkriegszeit reichte – der Untertitel letzterer Schrift (aus 1949): Die Erziehung des friedlichen Menschen durch eine konservative Demokratie.

Womit ich bei einem Stichwort bin, das mir gestern beim Spazieren eingefallen war und von dem ich dachte, dass es sich weiterentwickeln ließe: der „Überforderungskonservative“. Also nicht der Strukturkonservative oder Wertkonservative, sondern der Überforderungskonservative, der der Mitmenschheit und dem Allleben prinzipiell wohlwill, der aber vermeintliche Selbstläufer-Veränderungen, die den Menschen „transhumanisieren“, als Verzögerer gegenübersteht; der es zum Beispiel unerträglich findet, dass jeden Tag circa 150 Tier- und Pflanzenarten aussterben, und der den Weltbestand erhalten will, wobei er hierbei sich mehr als Gefühlsmensch denn als Rationalist und Rechner erweist.

Freilaufende Karteileichen

Der Verein hat mit den Jahrzehnten nun schon viele Verstorbene aufzuweisen. Der Frischverstorbenen wurde jährlich eigens in einer Gedenkminute gedacht, bei der sich die Anwesenden erhoben. Es gebe auch Karteileichen, nominell noch Mitglieder des Vereins, aber schon jahrelang nicht mehr in Erscheinung getreten. Möglicherweise verelendet, der Verein dulde sie weiter in seinen Reihen, wenn sie auch keinen Mitgliedsbeitrag zahlten. Verschwundene. Manche sind seit Jahren unauffindbar. Verschollene!

Und bei einem Vereinstreffen – wir standen im Foyer und tranken Wein – kamen zwei hagere, hochgewachsene alte Gesellen herein, einer mit Hakennase, und pöbelten laut vor sich hin: „Wer früher stirbt, ist länger tot!“ Wie hatten sie sich hierher verirren können? Wer waren sie?

Man munkelte, es seien möglicherweise zwei Gründungsmitglieder. Zwei von den sagenhaften, verschollenen. Die zwar durch nichts mehr weiter hervorgetreten waren, aber teilhatten an der Gründungslegende, die die meisten nur, wenn überhaupt, bruchstückhaft kannten.

So blickten wir mit einer Mischung aus Verärgerung und Ehrfurcht auf die beiden alten Gesellen. Gehörten sie einer älteren Epoche unseres einst als anarchisch verschrienen Vereins an, während wir Späteren den Verein verspießern ließen oder selber schon als verhältnismäßige Spießer in ihn aufgenommen worden waren? Waren sie alte Autoritäten, die sich nichts mehr schissen, die uns verachteten und sich jetzt betranken? Totgeglaubte?

„Totgeglaubte leben länger!“ – zur Probe rief ich den Satz in die Richtung der beiden Abgerissenen. Sie reagierten nicht oder stellten sich einfach taub.

Apropos „Abgerissene“: War nicht die Verbindung zu unseren Gründern auch „abgerissen“? Sollten diese dann nicht mit Abgerissenheit darauf reagieren?

Wer war dieses Altmännerpaar, das die Gläser bis oben füllte und tropfenverschüttend schwang? Vereinsahnherren oder zufällige Halunken der Straße? Wie bei einem Begräbnis, wo Leute auftauchen, bei denen man nicht weiß, ob sie zur Verwandtschaft gehören oder nicht, ob sie miteinzuladen wären zum Leichenschmaus? Manche Verwandte kennt man nicht, erst bei Begräbnissen tauchen sie auf. Wir schämen uns, erkennen zu geben, sie nicht zu kennen. Also laden wir sie zum Leichenschmaus ein, sicherheitshalber – und wären sie nur Schnorrer, Kiebitze.

Da sagte auf einmal einer der Distinguierteren von unserem Verein recht unwirsch zu den beiden alten Trunkenbolden: „Ihr Trottel!“ Das wirkte, sie verdrückten sich. Aber immer weiter ins Vereinshaus hinein, bis vor die Tür unseres Archivs.

„Wir feiern nur SEINEN Siebziger“, so nun der Begleiter des Hakennasigen.

ISKRA

Es ist verrückt, ich fühle mich verhangen, melancholisch, alternd wie selten, und dann drückt mir ein Mensch, der mir nicht einmal besonders gefällt, eine Zeitschrift DER FUNKE in die Hand. Ich gebe ihm die zwei Euro. Seinem Kompagnon, der mir ein paar Meter vorher bereits das Blatt andrehen hatte wollen, hatte ich noch abgewunken.

„Marxistisch?“ Der junge Verkäufer bejahte.

„Trotzkist?“, nun nickte er.

„Spartakist?“ Das kannte er nicht.

Ich verabschiedete mich mit geballter linker Faust, dabei in dem wieder einsetzenden Schneetreiben mich fragend, ob nicht die rechte zu ballen wäre. Der Genosse ballte nicht zurück.

Als ich mit ihrer Zeitung weggehe, einer Zeitung, die ich nicht lesen werde, spürte ich mich aber derart belebt, dass ich es hier festhalte.

In meinem Rucksack mystische, auch melancholische Literatur, die Tagebücher León Bloys 1892-1917, Le Milieu divin von Teilhard de Chardin, die Aufzeichnungen Eis heauton aus dem Nachlass Oswald Spenglers, wo er über die Trostlosigkeit seiner Umgebung schreibt, über die geistige Stumpfheit und Enge der Angehörigen, die Resonanzlosigkeit während seiner Schulzeit, das Verurteiltsein zum Außenseitertum allein durch geistige Interessen.

Und dann noch ist in meinem Rucksack, der Teil meines geistigen Verdauungsapparates zu sein scheint, ein ganz komisches altes, vergilbtes Buch von Niko Kazantzakis mit dem Titel Rettet Gott!, erschienen 1953 in einem Donau-Verlag mit dem sogenannten Donauweibchen als Vignette. Darin heißt es: „Ich glaube an die hinfälligen Masken ohne Zahl, die Gott im Laufe der Zeiten angenommen hat, und ich unterscheide in ihrer unaufhörlichen und wandelbaren Vergänglichkeit ihre unwandelbare Einheit.“

Es kostete mich Schamüberwindung, ein Buch mit dem Titel Rettet Gott! mir auszuleihen!

All diese Bücher im Vorverdauungstrakt meines Rucksacks, ganz in mich gekehrt, weil nunmehr älter als Thomas Bernhard geworden, entsetzlich, es ist schlechterdings schrecklich, wie man in den Rachen des Alters hineinsegelt, kamen also zwei Männer in einigem Abstand nacheinander auf mich zu, nein sprangen mich an, sie kamen hergelaufen, wie wenn sie ahnten, in mir sei Zunder, um mir den Funken zu überreichen, inmitten der vielen Menschen hatten sie nur mich angepeilt, dem Ersten hatte ich noch abwinken können. Wie die Attentäter von Sarajevo, die sich hintereinander aufgestellt hatten, das Bild ist hochübertrieben, aber man unterhält als Einsamer sich mit und in sich, jedenfalls sprang Der Funke dann im zweiten Versuch auf mich über und fuhr total ein, hat mich offenbar entflammen können, mich munter gemacht bis weit in die Nacht noch hinein, als ich zu Hause die mitgebrachten Bücher anzulesen begann.

Zwar kennt die Mystik ja das „Seelenfünklein“ (Meister Eckhart), doch nicht den Funken ISKRA.

Die Bücher, die ich an diesem Tag auswählte, scheinen in einem durch meinen Kopf arrangierten Zusammenhang zu stehen. Klappe ich das eine zu und schlage das nächste auf einer zufälligen Seite auf, liest es sich wie eine Fortsetzung. Die Texte korrespondieren. Bei Teilhard de Chardin entdecke ich am Grunde seines gesuchten, erzwungenen Optimismus eine tiefe Depression. Diese finde ich bei Spengler wieder, dem das Schreiben an manchen Tagen so schwer von der Hand ging, dass er sich für einen Nichtskönner hielt: „Eine Seite wissenschaftlichen Textes ruhig niederzuschreiben, bin ich nie imstande gewesen. Vielleicht scheint mein Stil sehr ruhig, aber es scheint nur so. […] Es gehört eine günstige Stunde dazu, wo mich etwas packt, wo die Worte heranfliegen, wo sich die Sätze in die Feder drängen, ohne dass ich mir völlig ihres Zusammenhanges bewusst bin. Ich weiß nur, und mit in erster Gewissheit, dass sie richtig sind, so wie sie da entstehen.“

Der Verfasser des Untergang des Abendlandes erlebte sich als schlechten, desultorischen Arbeiter, der sich mit Lektüre in Stimmung bringen musste, um den Funken auf sich überspringen zu spüren. In Phasen der Depression jedoch verdüsterte sich sein Selbstbild bis zur Selbstverkennung: „Ich empfinde Ekel vor allem, was ich gemacht habe, vor mir selbst, vor meiner Unfähigkeit.“ Er muss sich eingestehen: „Ich beneide jeden Menschen, der arbeiten kann, wann er will.“

León Bloy nehme ich zur Hand, weil er all die Genies und Geistesgrößen künftig in der Hölle braten sieht, sie jeweils mit drastischen Bildern in einem Satz kennzeichnend. Über Stendhal: „Geflügelte Totenschädel über einem Schweineherzen flatternd.“ Über Ernest Hello: „Ein leerer Sarg auf einem Gestell.“ Über Taine: „Ein von seinem eigenen Bau erschlagener Bauunternehmer.“ Über Balzac: „Ein übergroßes Auge, ein Auge, weiter nichts…“ Über Ibsen: „Ein Gorilla, das Wort ‚Schicksal‘ schreibend.“

Zu Napoleon eindrucksvoll wie ein Bildhauer, der das Wesentliche erschaut: „Napoleon wäre ohne Beresina und Waterloo ein Antlitz ohne Augen, ein unsagbares Ungeheuer.“

So machen uns, wenn nichts anderes anschlüge, am Ende und im Rückblick dann doch unsere Niederlagen zu Menschen.

Literaturhaus am Inn – Lieben, Sprechen, Fühlen, Genießen
Josef-Hirn-Straße 5
6020 Innsbruck

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