14.–18.12.2020
Das ist der Beginn eines Tagebuchs. Wenn ich es schaffe, es auch morgen noch zu führen, habe ich meinen Schnitt von 1,2 Tagen pro begonnenem Tagebuch schon überboten. Das Problem ist: Was soll im Tagebuch aufgeschrieben werden? Und das noch größere Problem: Was soll nicht aufgeschrieben werden?
Unlängst bin ich über einen Artikel über Jack London gestolpert. Jack London ließ sich für seine Kurzgeschichten Plots vom jungen Sinclair Lewis schicken. Wenn er einen davon brauchen konnte, zahlte er Lewis dafür 5,20 Dollar und machte daraus eine Kurzgeschichte. Er hatte aber panische Angst, Lewis könnte vergessen, dass er London den Plot verkauft hatte, und daraus selbst einen Text machen. Diese Sorge war aber unbegründet, denn Sinclair Lewis war trotz seines Alkoholismus ein äußerst penibler und fleißiger Verwalter seines Werks und seiner Notizen.
Vielleicht sollte ich also jemanden suchen, der mir seine Tageserlebnisse schickt, damit ich daraus ein Tagebuch machen kann. Wenn ich 5,20 Euro bezahle, würde mich ein Jahr 1898,00 Euro (ein Schaltjahr 1903,20) kosten.
Da ist es klar, dass Schriftsteller, die bei Investitionen vorsichtig sind, zu Naturbeschreibungen greifen. Übrigens ist heute morgen beim Nahsehen — so nenne ich das Blicken aus meinen Fenstern, von denen mir jedes als eigener Nahsehkanal dient — aufgefallen, dass der Himmel über der Schreygasse tatsächlich dramatisch ist. In dem kleinen Buch über häufige Fehler beim Schreiben gibt es ein Kapitel mit dem Titel Don’t describe sunsets! Also lasse ich die Beschreibung und versuche ein Foto mit dem Smartphone zu machen. Diese Wolken. Ich nenne sie: Elomen Elomen Lefitalominal.
Ohnehin traue ich einem Datum nicht, besonders, wenn ich es selbst aufgeschrieben habe. In meiner Schulzeit habe ich immer zwei bis drei Monate gebraucht, bis ich die richtige (neue) Jahreszahl internalisiert hatte. Wenn ich also 8. Januar 1987 schrieb, wurde es wahrscheinlich in Wirklichkeit am 8. Januar 1988 geschrieben. Diese Fehlleistung verstärkte sich im Laufe meines Lebens. Nach der Jahrtausendwende schrieb ich oft 1991, wenn ich 2001 meinte.
Vermutlich ist es also besser, nicht nur Leerseiten zu hinterlassen, sondern undatierte Leerseiten zu hinterlassen. Vor kurzem habe ich erfahren, dass bei professioneller Digitalisierung von Nachlässen, auch alle Leerseiten gescannt werden müssen. Das ist tröstlich, wenn man Kisten voller Tagebücher hat, die keinen einzigen Eintrag haben.
Die Gewissheit, dass ein bestimmter Eintrag tatsächlich an einem bestimmten Tag geschrieben wurde, ist also schwer zu erzeugen. Entführer wissen das und lassen ihre Opfer immer eine Tageszeitung in die Kamera halten.
Das Foto ist der Beweis. Der Tag: Freitag, 2. November 1990. Ein Bauarbeiter bei der Bohrung des Channel-Tunnel zwischen Frankreich und Großbritannien. Überschrift: Das historische Loch.
Die Zeitungen aus der Zeit, in der es keine Online-Archive gab, sind die einzig wahren Zeitzeugen. Auf das Netz als objektive historische Quelle ist kein Verlass, denn im Netz sind die Undo-Manager unterwegs. Bis vor kurzem war das Bild unseres Bundeskanzlers als jungem Mann an der Seite des damaligen Finanzministers Karl-Heinz Grasser noch auf vielen Seiten zu finden. Seit einigen Tagen ist es verschwunden und nur ein einziger Blog hat es vor dem Vergessen bewahrt. Was für ein Zufall: Das historische Loch!
Das Netz ist also zu jeder Zeit ein Ausdruck der Wille der Mächtigen. Wer hat wo angerufen und wieviel bezahlt, um was zu löschen? Es wird nicht Jack London gewesen sein und der Betrag nicht 5,20 Dollar.
Vielleicht sollte ich ein Online-Tagebuch schreiben und mich dafür bezahlen lassen, dass ich Satz für Satz lösche und wieder offline nehme. Für manche Sätze bekomme ich vielleicht nur ein paar Cent; für andere höhere Summen. Nicht für das Schreiben bezahlt werden, sondern für das Löschen.
Auf Seite 9 des STANDARD vom 2. November 1990 ist übrigens ein Interview mit Ilse Aichinger abgedruckt. Titel: Hört jetzt das Schreiben auf, wird alles noch schwerer. Ein Zitat aus dem Interview:
Unlängst hat mir ein Freund erzählt, 70 Prozent aller
Autoren auf der Welt sind Alkoholiker. Es wundert mich
nicht. Es ist ein harter Job. Unter Schriftstellern ist die
Suizidhäufigkeit angeblich am größten.
An nächter [sic!] Stelle kommen angeblich die Metzger.
Mir gefällt das doppelte angeblich und der Druckfehler vom 2. November 1990. Man sieht also, dass im Print-Archiv alles erhalten bleibt. Ob Ilse Aichinger wohl an Sinclair Lewis gedacht hat?
Suizidhäufigkeit und Alkoholismus unter Metzgern ist ein steile Vorlage für eine Kurzgeschichte. Andererseits würde gerade eine solche Geschichte gut zum diesjährigen Weihnachtsunfrieden passen.
Der Film Wir sind keine Engel gehört für mich seit vielen Jahren zur Weihnachtszeit. Eine Boulevardkomödie, wie sie heute niemand mehr schreiben kann. Eine Komödie mit brutalen Seiten: Einem Verwandten den Tod zu wünschen und diesen Wunsch just Weihnachten erfüllt zu bekommen — das klingt nicht nach einer Komödie. Und doch schafft es dieser Film, daraus etwas Leichtes, wenn auch nicht Seichtes zu machen.
Wir sind keine Metzger. Das ist vielleicht für heute der passendere Titel. Ich muss die Gegenfrage stellen: Sind wir keine Metzger? Die drei Sträflinge, die im Film zu Engeln werden, bekommen am Ende ihren Heiligenschein. Woher sollten wir ihn heute nehmen?
Für mich gibt es dieses Jahr nur ein Weihnachtswunder: Wenn jemand nach Lesbos fliegt und auch nur einen kranken Menschen aus den Lagern dort nach Österreich bringt, um ihn hier zu pflegen und zu betreuen; wenn jemand anstatt Absichtserklärung und Empörung diese Tat vollbringt, auch wenn sie oder er damit gegen die Rechtsstaatlichkeit verstößt. Wahrscheinlich, ziemlich sicher sogar, wird es dieses Weihnachtswunder nicht geben. Und ohne Wunder keine Weihnachten.
Der Blog wird in der geschichtlichen Betrachtung der 20er-Jahre des 21. Jahrhunderts jene Form gewesen sein, in der Wahrhaftigkeit und Gültigkeit (für kurze Zeit) noch möglich waren. Das wird aber nur Einträge betroffen haben, die unmittelbar verfasst und unmittelbar nach ihrem Verfassen gelesen worden sein werden. Der historische Blogeintrag, der schon ewig im Netz steht, in jenem Netz, das angeblich nichts vergisst, wird unter dem Verdacht der nachträglichen Manipulation stehen. Die einstige Wahrhaftigkeit wird in der jeweiligen Gegenwart als später erfolgte Adaption an später herrschende Anforderungen gelesen werden.
Der Tagebuchschreiber muss also den zukünftigen Blick auf die Gegenwart als spätere Vergangenheit vorausahnen. Es ist interessant, dass wir keine Geduld für die Sprache von gestern mehr aufbringen. Dass wir die Texte von gestern nur in der Übersetzung ins Heutige unter Streichung aller nicht-zumutbaren Stellen (und unter Änderung aller nicht-zumutbaren Wörter in zumutbare Wörter lesen wollen) und in dieser gegenwärtigen Abänderung mehr Authentizität vermuten als im Verfassen des Originals.
Nicht manipulierte politische Diskussion und Analyse findet (fast) nur mehr in Blogs statt. Es kommt mir seltsam vor, dass ich das schreibe. Ich konnte Blogs und Blogger eigentlich nie leiden. Und die Vorstellung einer jederzeit möglichen Änderung eines bereits veröffentlichten Texts empfinde ich als Bedrohung.