Was ich in diesem Journal Tag für Tag aufs Neue vorschlagen werde, ist ein grundlegendes Schisma. Es ist das nämliche, das ich in meiner Literatur täglich praktiziere; denn darum geht es ja hier – um die Ununterscheidbarkeit von Körper und Geist, von Bewegungs- und künstlerischer Praxis oder zumindest der gegenseitigen Befruchtung ihrer Methodologien.
Das Schisma, von dem ich hier wie dort spreche, ist folgendes: Wer Bewegung oder Literatur ernsthaft praktiziert, muss gleichzeitig vollkommen spielerisch sein wollen, unablässigen Experimentierwillen versuchen – und es zum selben Zeitpunkt todernst mit all dem meinen. Lassen Sie mich erklären.
Über den Gedanken der Intentionalität von Bewegung stolperte ich zuallererst beim 80-jährigen(!) Stephen Jepson, der mit einem Programm namens Never leave the playground Menschen gerade zu dem ermutigen will, was ich in meinem Einführungstext als das Offenhalten der Türe bezeichnete: Neues lernen, in jedem Alter, an möglichst jedem Tag. Insbesondere hörte ich ihn jedoch über eine Studie sprechen, die für mich noch einmal neues Licht auf den Charakter eben jenes Lernens warf.
Und zwar diese: Zehn Menschen wurden darum gebeten, innerhalb von drei Tagen jonglieren zu lernen. Normalverteilterweise waren nach Ablauf dieser Zeit fünf in der Lage dazu, zwei exzellent, fünf gar nicht, zwei konnten nicht einmal einen Ball fangen. Als man jedoch in einem zweiten Schritt ein Aktivitäts-MRT von allen anfertigte, war die erstaunliche Erkenntnis diese: Bei allen – fähig oder unfähig – hatten sich dieselben Adaptionen ereignet, und bei jeder/jedem hatte sich die Kapazität in verwandten Aufgaben zu performen verbessert. Es war die Absicht die Bälle zu fangen, die Ernsthaftigkeit der Intention, die wesentlich wichtiger waren als der sogenannte Erfolg.
Zu spielen (ein Konzept, über das ich in einem anderen Posting noch länger sprechen werde) und dieses Spielen vollkommen ernst zu meinen, sind nicht nur Gegenteile, sondern auch notwendige Komplemente voneinander. (Etwa so wie Niels Bohr sagte: „Das Gegenteil einer richtigen Behauptung ist eine falsche Behauptung; aber das Gegenteil einer tiefen Wahrheit kann wieder eine tiefe Wahrheit sein.“)
Manchmal werde ich gefragt, wie ich es denn ernst meinen könne, „Weltliteratur schreiben zu wollen“ (wie ich einmal leichtfertigerweise in einem Interview meinte). Meistens antworte ich dann, dass es für mich um etwas anderes geht: Wie muss ein Mensch leben, der so etwas sagt? Muss ich denn nicht zunächst diese vielen Bälle in die Luft werfen? Und ist nicht wichtiger als sie zu fangen, es in Todesernst zu versuchen? Um nicht mit einem so pathetischen Satz zu schließen, hier noch eine Anregung für ein ernstes Spiel: Nehmen Sie sich eine/n Partner/in und stellen sie sich einander gegenüber. Versuchen sie nun die linke Schulter des/der anderen zu berühren, alle Bewegungen sind erlaubt. Versuchen sie auszuweichen, sich zu drehen, ächzen und stöhnen sie und tun sie so, als würde es um Leben und Tod gehen. Treten Sie gegeneinander an – aber miteinander; üben Sie Raumwahrnehmung, Schnelligkeit und Reaktion für zehn Minuten – und staunen Sie den Rest des Tages über die Auswirkungen dieses ernsten Unernstes.
Neuroplastizität als solches ist die grundsätzliche Möglichkeit unseres Nervensystems (merke: nicht des Gehirns allein; vielmehr auch der Wirbelsäule, der Nerven und einiger Organe), Neuronen neu zu belegen. Diese Nervenbahnen bestimmen nicht nur unsere Bewegungsmuster und die Wahrnehmung der sogenannten Wirklichkeit, sondern auch gewisse Verhaltensdispositionen und „geistigen“ Vorgänge. Plastisch sind wir deswegen auch vornehmlich in der Kindheit und im Teenageralter – so plastisch zuweilen, dass bloßes Zuschauen tiefgreifende Strukturveränderungen unseres Gehirns bewirken kann. Naturgemäß verfestigen sich diese Muster die darauf folgenden Jahre zu Automatismen, und zwar zu solchen, die sich auf die ein oder andere Weise bewährt haben. Bewährt heißt aber nicht immer richtig, denn manche dieser Reaktionen entspringen eingeübten Fehlhaltungen: falschen Bewegungen, destruktiuvem Verhalten, und je älter wir werden, desto statischer, desto weniger ist es gehirnphysiologisch möglich, etwas an ebenjenen zu ändern. Aber es gibt zum Glück einen Twist.
Und zwar funktioniert das so: Die Möglichkeit zur Plastizität ist grundlegend mit zwei Dingen verbunden:
Das ist das Erstaunliche: Dass die Möglichkeit jeder Veränderung unseres Verhaltens (auf neuronaler Ebene, nicht rationaler) vorrangig auf diesen beiden Dingen beruht.
Der Grund für diese Verbindung ist vereinfacht gesagt die, dass wir eine innere Repräsentation der äußeren Welt besitzen. Sagen wir dieser Wiese, auf der wir gerade stehen. Jeder Schritt bringt zumeist eine Bestätigung dieser Repräsentation, die der Sehsinn abgleicht: ja, der Boden ist gerade so geneigt, so weich, wie wir es erwartet hätten etc.
Der Clou zur Neuroplastizität ist nun, diese beiden Dinge in eine Divergenz zu bringen:
Ich empfehle hier für jene, die dieses Thema interessiert, den Podcast des Stanford-Professors Andrew Huberman, der zur Neuroplastizität forscht (https://podtail.com/de/podcast/huberman-lab/), aber für alle Eiligen fasse ich hier kurz die Erstaunlichen Dinge zusammen: Erstens, die errungene Neuroplastizität ist nicht allein für Bewegung förderlich, sondern für schlechthin ALLES. Wer etwa 20 Minuten balancieren übt (vgl. Bild 1 für Inspiration) lernt danach eklatant besser Sprachen – das Fenster ist etwa eine Stunde offen. Zweitens – je mehr man in der Aufgabe scheitert, desto besser, denn desto größer die Divergenz (vgl. Foto 2 für eine schnelle Frustrationsaufgabe).
Das ist freilich das Gegenteil von dem, was uns bildungstechnisch vermittelt wird – nichts schlecht zu machen, dieselben Dinge zu tun, bis wir „gut darin sind“. Wie erfrischend, dass unser Körper uns geradewegs das Gegenteil befiehlt – jeden Tag neuerlich Anfänger zu sein, um die Tür nicht zugehen zu lassen.
Den Rudersport entdeckte ich mit 22, als ich in einer Zeitung las, dass es der physisch anstrengenste überhaupt sei – ein Liter Schweiß, 800 Kalorien, Gesichtsfeldausfälle in etwa sieben Minuten Rennen. Warum irgendein vernünftiger Mensch das als Motivation nehmen sollte, dieses Höllenkommando zu versuchen, muss man wohl nicht zu beantworten versuchen.
Oder eben doch: Ich habe einen gesunden Hunger nach Intensität. Von meiner Ausbildung im Sportgymnasium her, bin ich gewöhnt, ein bis zwei Stunden am Tag zu trainieren, sehr häufig zielgerichtet, das heißt wettkmapforientiert. Ein wichtiger Lernprozess war es dabei, die Individualität des jeweiligen Körpers (in diesem Fall also meines) zu berücksichtigen – dass ich mich jahrelang in Aushungerung zum Ausdauerlauf zwang, statt meine natürlichen 73 Kilo in ein Boot zu setzen – im Nachhinein natürlich die reinste Zeitverschwendung. Aber das ist nur ein Nebenschauplatz – der Nebenschauplatz der Intensität. Warum ich glaube, dass neben einer generellen Bewegungspraxis, wie ich sie hier skizziere, auch die Spezialisierung auf einen Sport, den man regelmäßig praktiziert essenziell ist, ist weil man allein in ihm fähig ist, Intensität und Ausbelastung – ein Gehen an die Grenzen – zu erreichen. Diese Grenze zu spüren, ist umso zentraler, da wir gewisse Aspekte des Menschseins in unserer normalen Lebenspraxis systematisch vernachlässigen. Einige dieser Aspekte etwa wären:
Rudern ist in jeder dieser Hinsichten meine große Liebe: Ein und dieselbe Bewegung, ein Leben lang perfektioniert unter stetig sich ändernden Bedingungen an der Grenze meiner Möglichkeiten und inmitten der Gezeiten. Vor allem aber ist es eine Möglichkeit, sich einen Pfad in die Möglichkeiten der Lebendigkeit – des intensiv empfundenen Lebens zurückzuerkämpfen.
Dieser Tage – und sicherlich bedingt durch diese eigenartige Pandemie, die alles Systematische lahmgelegt, alles Zielgerichtete gebremst hat – spiele ich, wie nie zuvor. Während es mir (in sportlicher Hinsicht) vor Corona zu wenig anstrengend, zu unspezifisch gewesen wäre, etwa einen Nachmittag lange mit Anderen Ball zu spielen, wird es zu einer immer häufigeren Praxis für mich, möglichst komplexe Szenarien zu entwerfen. Ich treffe etwa mittags Freunde und spiele für 30 Minuten Koordinationsspiele, werfe Körbe oder absolviere ein kurzes Sparring. Die Anforderungen an räumliche Organisation, Schnelligkeit und Unvorhergesehenheit der Bewegungen sind unvergleichlich reichhaltig; nicht zu erwähnen den sozialen Zweck des Spiels, der eine einlädt, aus der Isolation in anti-neoliberale, zweckfreie Erkundungsreisen zu tauchen.
Der Anthropologe Johan Huizinga entwarf in seinem Essay Homo Ludens schon 1939 das Gegenbild zum zielgerichtet wirkenden Homo Faber. Huizinga rekonstruiert die Menschheitsgeschichte als kulturell aus dem Spiel erwachsen – und vielleicht ist nicht einmal das weit genug gedacht; Spielverhalten übersteigt die Spezies Mensch; zieht sich quer durch alle Tierarten. Es ist ein Erkunden des eigenen Körpers, und der Umwelt, und was sollte einen jemals dazu bringen, mit einem solchen Unterfangen aufzuhören?
Ido Portal, der Begründer jener Movement-Culture (www.idoportal.com), dem ich die Incents zu vielen meiner Bewegungsgedanken verdanke, gibt etwa folgende Tipps, um im Spielen zu bleiben:
Treat everything around as a potential game, riddle and play * Take yourself far less seriously * Don’t base yourself on winning, make sure you play certain games even if losing will often be in the cards. Don’t avoid them. * Study animals- they all play. How much? A lot! * Make sure you have the social scenario that facilitates play, get off the overly serious and uptight asses club, no matter their ‘success’. Go to a climbing gym, mma dojo, movement studio, parkour facility, etc- if it’s too ritualistic, stern for no functional reason, isolating or traditional for tradition sake, find another spot. *
Auch ich erlaube mir an dieser Stelle ausnahmsweise und im Gegensatz zu meinen anderen Blogeinträgen, ungewohnt pragmatisch zu sein, weil das konsequente Verlernen von Spielmustern und Bewegungskreativität oft dazu führt, dass Menschen mit ein paar Beispielen sehr geholfen ist: In angehängtem Video habe ich einige Ideen für Spiele angehängt zu denen Sie nichts als sich selbst und einen Tennisball brauchen.
Dass bei diesen Aufgaben die Grenzen zwischen Sport, Erprobung und Ausdruck fallen, ist Teil ihrer Komplexität – dass sie wie Spiel erscheinen, Charakteristikum ihrer Leichtigkeit. Oder, um es wieder mit Ido Portal zu sagen: Being playful over being successful.
Als der Psychologe Alexander Luria zum ersten Mal seinem Patienten, der später unter der Abkürzung R. zu Weltruhm gelangen würde, gegenüberstand, traute er den Aufzeichnungen kaum: Der junge Mann, der zuvor noch für eine Moskauer Zeitung gearbeitet hatte, war ihm als ein Genie angekündigt worden, das ein exaktes, niemals fehlgehendes Gedächtnis habe. Ob Symphonie, ob gestaltloser Fleck, R. könne sich jahrzehntelang jede Information merken und sie reproduzieren. Das Problem seines Lebens aber war ein anderes: Er konnte nichts vergessen, und dieses Nichtvergessenkönnen (für das Luria allerlei Methodologien erfinden würde) blockierte bald seine gesamten kognitiven Funktionen.
Wenn wir nachts, gegen die Morgenstunden hin, in den REM-Schlaf gelangen, in dem die Amygdala blockiert ist, und wir die Ereignisse des Tages noch einmal Revue passieren lassen können, nur ohne die sie begleitenden, aufkratzenden Neurotransmitter, passiert exakt das: Geschehnisse werden von den Emotionen entknüpft, wir durchlaufen eine Routine des Vergessens.
Unserem Bildungs- und Sportsystem sind solche Gedanken freilich fremd. Zu prominent ist das Modell des omnipotenten Lernens, der Tugend, möglichst viel Können und Information anzuhäufen, doch ignoriert dieses Bild vollkommen, dass die Hauptaufgabe des gesunden Verstandes gerade darin besteht, Unnützes auszusortieren, zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem zu unterscheiden.
Ich glaube, dass es im Schreiben wie im Bewegen zwei Prozesse gibt: Die Addition – das Erlernen neuer Strategien, die Aneignung, das Entdecken neuer Gebiete –, und die Subtraktion – das Weglassen unnötiger Bestandteile, das Hineingehen in bereits bekannte Muster. Diese beiden Dinge sind leicht zu verwechseln, denn: lerne ich nicht eine gewisse Spannung, eine bestimmte Kraftverteilung, wenn ich etwa einen Handstand übe? Die Antwort lautet meiner Ansicht nach nein. Vielmehr ist das Problem, das einen zum Umfallen bringt, dass unnötige Bewegungen gemacht werden und deswegen Energie aus der kinetischen Kette, die eigentlich „geschlossen“ sein sollte, entkommt. Eine Schwankung, eine kleine Drehung in der Hüfte – einen Handstand können heißt, wie im Auspacken eines Geschenks immer mehr Hülle abzuziehen, bis etwas zum Vorschein kommt, was ohnehin immer da war. Jede dieser Subtraktionen wertschätzen und überhaupt wahrnehmen zu lernen, ist freilich nicht einfach. Zwei weitere Beispiele zur weiteren Anschaulichkeit:
Eine ähnliche Philosophie verfolge ich auch bei meinen Unterrichtskonzepten an der Angewandten: Natürlich kann man Schreiben niemandem beibringen; wir nehmen dort auch Studenten auf, die längst – auf die ein oder andere Art – schreiben können. Ich glaube also an eine Routine des Vergessens; eine bewegungsinspirierte Schreibmethodologie, um zu verstehen, was Sprache noch sein kann.