23.–29.11.2020
Ich stelle mir vor, ich bin auf Stipendium und das Geld ist noch nicht angekommen. Das ist in diesem Fall nicht so schlimm, solange ich angekommen bin. Ich bin irgendwohin gereist in einem Zug, der übervoll war. Ein Sechserabteil mit schwitzenden Sommermenschen. Ein Abteil wie bei einer Schulreise, nur dass wir einander nicht kennen und deswegen tunlichst darauf achten uns nicht zu berühren, nicht anzuatmen, nicht allzu auffällig zu schauen. Die Nachtbeleuchtung ist an und wir atmen keuchend hinter unseren Masken. Es ist meine erste Fernreise seit einer gefühlten Ewigkeit. Ich kann nicht einmal mein Buch aus dem Rucksack ziehen. Es gibt einfach keinen Platz. Ich bin panisch glücklich. Bis zum Morgengrauen steigt niemand aus, obwohl wir sehr oft und sehr lange halten.
Ich stelle mir vor, ich sitze wieder in diesem Zug und steige an allen Stationen, die ich nicht kenne, aus und sehe mir die Städte an, bevor ich weiterfahre. Ich bewegte mich ungezwungen durch die Landschaft, die Stechmücken ließen mich zufrieden und das Wasser ginge mir nie aus. Es wäre ganz einfach auszusteigen. Erst danach begännen die Probleme, Kontrollen, Fiebermessen. Ich denke an Rom und wie sich alles mit einem Schlag änderte. Einbahnsystem an Bahnhof, leere Waggons, Temperaturbestimmung beim Ein- und Ausstieg. Irgendwie hoffen, dass man trotz der 37 Grad Außentemperatur nicht zu sehr schwitzt. Ich fahre weiter. Ich verstehe nichts. Ich habe keine Ahnung, wann meine Station kommt. Ich bin selten so ruhig gewesen.
V. holt mich ab. Es ist später Nachmittag und angeblich die heißeste Zeit hier. Ich ignoriere das, trinke zwei Liter Wasser, stelle mich unter die kalte Dusche und nehme dann voller Tatendrang einen der Tische in Beschlag. Kurze Zeit später zeigen sich die Auswirkungen der schlaflosen Zugnacht und ich fläze am Sofa und fächere mir mit einer Fliegenklatsche Luft zu. Später zwinge ich mich, den Koffer auszupacken, mir fällt auf, dass ich keine einzige Jacke mithabe und keine Regensachen. Zugegeben, das Wetter sieht nicht danach aus, als würde ich etwas davon brauchen.
Ich gehe um acht ins Bett und finde es komisch, dass es bereits so dunkel ist.
November: Ich sitze am Schreibtisch neben der Heizung und trinke Tee. V. schickt mir einen Link mit italienischer Poesie. Er glaubt immer noch, ich verstehe Italienisch, wenn die Nachricht in Gedichtform daherkommt. So sehr ich an die universelle Wirkung der Poesie glaube, bisher hat der Lyriksprachkurs noch nicht gefruchtet.
Ich stelle mir vor, zur Salzburger Schranne ist auch Markttag in Paliano. Es ist tatsächlich so, nur der eine Markt ist 995 Kilometer vom anderen entfernt.
Während ich hier mit Schal und Handschuhen zehn Minuten mit dem Fahrrad an der Salzach entlangfahre, kommt es mir nicht wie drei Monate, sondern wie drei Jahre vor, dass ich mich zu Fuß auf den Weg zur palianesichen Hügelstadt gemacht habe. Es brauchte zwei Anläufe, bis ich die Wegkarte richtig gelesen hatte. Zu wenig Wasser und kein Gelsenspray im Gepäck. Ein notwendiges Utensil für vermeintliche Abkürzungen durch das Gebüsch. Dafür Sonnenhut, Sonnenbrille, Sonnencreme und einen Wanderstock, der notfalls auch als Verteidigung dienen könnte. Bei meinem ersten Versuch, in die Stadt zu gelangen, verbrachte ich einige Zeit damit, ein gerissenes Huhn anzustarren, das kopflos in einer Staude hängen geblieben war. Dann versuchte ich den Hundewächtern weitläufig auszuweichen und landete dafür an einer Schnellstraße mit distelüberwuchertem Straßengraben, was mich meine sommerliche Schuhauswahl überdenken ließ.
Ich stelle mir vor, wie es zu dieser Jahreszeit in Paliano gewesen wäre. Herbstlaub und kühle Morgenstunden. Stattdessen stand ich um fünf Uhr auf, um rechtzeitig im Ort zu sein, nicht in der prallen Sonne, die Hunde noch im Stall beim Melken. Ich fühlte mich wie eine Superheldin. Dieses Mal in Turnschuhen, hinein in den Sonnenaufgang, hätte mich in Bergblick und Nebel verlieren können, aber ich musste weiter. Der Straßenverkehr blieb immer derselbe. Das letzte Stück war länger als gedacht, aber ich sah die ersten Geschäfte, die Läden hatten alle noch geschlossen, es war erst sieben, es war eigentlich viel zu früh für Ausflüge. Die Marktstände wurden erst aufgebaut.
Später versuche ich mich im Getümmel zu behaupten, was schwierig ist, weil ich nur auf die Sachen deuten kann die ich haben möchte, wahllos deutsche Wörter in die Gegend werfe. Ich plane, mit dem Bus zurück zu fahren, weswegen ich eine Wassermelone und eine Flasche Wein kaufe. Der Bus kommt aber erst in zwei Stunden, die Sehenswürdigkeiten habe ich schon alle gesehen und die Cafés schließen zur Mittagszeit. Seufzend mache ich mich also mit Melone am Rücken und Wein in der Hand wieder zu Fuß auf den Weg.
November: Die Stände bei der Schranne sind weitläufig verteilt. Die Menschen ordnen sich in Schlangen. Es ist wie ein kleines Lebensmittellabyrinth, am Ende spuckt es einen vollbeladen wieder aus. Essen ins Körbchen, Kaffee und Kuchen gibt es dann zu Hause.
Ich stelle mir vor, einen Tag lang zufrieden zu sein, damit gesund zu sein und meine Familie in der Nähe zu haben und die Liebsten wohlauf. Ich denke über die Verschiedenheit von Vermissen nach. Wieso ich gerade jetzt so heftig vermisse und am Telefon kein Wort herausbringe. Ich erinnere mich an endlose Telefonate aus Italien, bei denen ich vorwiegend über die Beschaffenheit des Himmels und die Annäherungsversuche der Salamander sprach und die Ermüdung am anderen Ende des Hörers zuerst nicht wahrnahm. Wie ich meinen Rhythmus von März spielend übernahm. Aufstehen, Sport machen, lesen, am Schreibtisch herumgammeln. Ich war zwar deutlich produktiver, als im Frühjahr, hatte plötzlich viel mehr Raum und Weite, aber niemanden mehr, mit dem ich über Begrüßungsworte hinaus verständigen konnte. Eine Ausnahme waren die Kurzbesuche von V., der mir bei jeder Gelegenheit das Zitronenlandlied von Goethe vortrug, wenn er kam um die Pflanzen zu wässern.
Ich stelle mir vor, die vermoosten Bäume vor meiner Wohnung wären ein Zitronengarten, die Straße zum Berg, eine Pinienallee, blättere in Fotos und spüre das Flirren der Hitze. Das Atmen wird schwer im Nachmittagswind, der den Wäscheständer umfegt, und die Katze aufscheucht. Ich stelle die Musikbox vor das Fenster und spiele Disco. Nach drei, vier Songs bin ich so erhitzt, dass mir schwindlig wird. Ich halte den Kopf unter kaltes Wasser, bis es wieder geht, zupfe die staubige Wäsche aus dem Oleanderbaum vor dem Haus.
Als ich den Gasofen anmache, denke ich unwillkürlich an eine meiner früheren Wohnungen in Wien. Das Vermissen setzt wieder ein, die Großstadt, der Wirbel, das Bimmeln der Straßenbahnen. Vor dem Fenster ein zauberischer Sonnenuntergang in der der fernen Landschaft. Was würde ich für ein bisschen Regen geben.
November: Die Tage vergehen sehr schnell. Es wird dunkel, bevor ich richtig mit der Arbeit begonnen habe. Ich kann lange nicht einschlafen, obwohl ich so müde bin, dass mir die Augen tränen. In meinen Träumen geht stets etwas zu Bruch.
Ich stelle mir vor, Schwalbennester unter dem Dach zu haben, das beständige Rascheln der Flügel, das Kratzen der Krallen und das verhaltene Vogelflüstern. Sie werden nur laut, wenn sie glauben, dass ich schlafe. Sie schauen dann durch die geöffneten Fensterläden, ich atme ruhig und öffne die Augen nur einen kleinen Spalt. Eine kleine Brise weht vom Fenster her, ich schlafe ohne Decke und ohne Kleidung, dafür mit Moskitospray eingesprüht. Er bildet einen Film auf der Haut, die zweite Schicht über der Sonnencreme und verklebt mir die Atemwege. Ich zähle die Nächte. Im Kopf einen kleinen Zettelkalender, der jeden Tag eine Seite abreißt. Mit jeder abgerissenen Seite sollte woanders eine Seite Geschriebenes dazukommen.
An manchen Tagen bestehen die Dokumente auf meinem Laptop aber nur aus Leerzeilen.
Ich stelle mir vor, wie es sein wird, wenn ich zurückkomme. Wie es sein wird, das nächste Buch in den Händen zu halten, die erste Lesung, ein reales Festival. Ich denke, bitte, bitte, bitte, bitte. Ich stelle mir vor, wie ich sonnengebräunt auftauche, entspannt, als käme ich direkt vom Strand, das nächste Projekt im Gepäck. Es ist noch nicht so weit. Ich lese mir das gesamte Manuskript selbst noch mal laut vor, bevor ich es für den Druck frei gebe. Ich lese ein wenig für die Spinnen und für die Eidechsen. Ich darf nicht abschweifen, die Gedanken müssen am Text bleiben. Ich schicke meinen Freunden kurze Auszüge als Sprachnachrichten. Ich sende.
November: Manchmal würde ich lieber sammeln als senden. Aber das geht jetzt nicht. Beim Sammeln verschwindet man. Und jetzt gerade kann ich nicht verschwinden. Nicht schon wieder, nicht wenn ohnehin alle dagegen ankämpfen. Gegen das Verschwinden, Verblassen, Vergessen. Wir veranstalten uns also weiter selbst.
Ich stelle mir vor, wieder an einem längeren Manuskript zu arbeiten. An einem Text bleiben zu können, mich nicht andauernd fortzubewegen, um Tee zu machen oder in der Zeitung zu blättern oder an die Sonne zu gehen. Ich arbeite in Parallelwelten, die einander zwar Berührungspunkte bieten, an die ich aber nicht anknüpfen kann. Ich behauptete stets, es gäbe keine Blockaden. Im Schreiben vielleicht, im Sammeln aber nie. Und das Sammeln bedeute ja stets auch ein Fortschreiben, einen Beginn zu suchen für die nächste Geschichte. Ich suche Anfänge in anderen Büchern, Gedichtbänden vorwiegend, manchmal begegnet mir auch ein Wort oder eine Zeile im Radio und endlich stellt sich die Ruhe ein, dass ich loslegen kann. Wenn ich auf Stipendium bin, nehme ich mir stets vor ein Projekt abzuschließen. Ich schließe dann aber nie das gewünschte Projekt ab, sondern starte mehrere neue, die mich dann wieder Jahre beschäftigt halten.
Ich stelle mir vor, Ende Dezember einen richtigen Neustart zu wagen. Alles niedergeschrieben, festgehalten, freier Kopf und freie Zeit, wenn es denn dann wieder losgeht, das Leben da draußen. Ein Vorsatz, den ich bereits im Sommer gebrochen hatte. Die Idee klang ganz einfach. Immer früh aufzustehen und durchzuarbeiten. Ich wäre fertig mit dem nächsten Manuskript, noch bevor der jetzige Roman in den Buchhandlungen läge. Wahrscheinlich sind das die wahren Auswirkungen der Einsiedelei. Selbstüberschätzung gepaart mit Größenwahn. Ein bisschen davon braucht es vielleicht auch, um Poetin zu sein.
Ich stelle mir vor, die Sonne wärmt noch. Vielleicht tut sie das tatsächlich. Zumindest der Berg leuchtet mir zu, verlockt sich noch einmal einzupacken, und das Haus zu verlassen. Es ist erstaunlich, wie viel Kleidung man plötzlich braucht. Üblicherweise reise ich immer mit leichtem Gepäck, aber nun kommt es mir vor, als nähme der Kleiderhaufen kein Ende, als würde ich ständig irgendetwas anziehen und nie etwas aus. Ich stelle mir vor, wie es wäre, sich ab und an zu häuten, nicht nur schüppchenweise oder in sonnenbrandgerechten Portionen, sondern komplett. Die alte Haut von Zeit zu Zeit wie Ballast abwerfen, Geheimnisse, die in den Poren haften, ganz einfach auf die Erde sinken zu lassen. Später wachsen Vergissmeinnicht daraus.
Ich stelle mir vor, wie du eine der Blumen abpflückst und mir bei unserem nächsten Wiedersehen ins Haar steckst. Es tröstet mich, dass du eines meiner Geheimnisse gepflückt hast, auch wenn es bedeutet, dass wir uns erst im Frühjahr treffen werden. Wenn die Blumen stark genug sind, dass sie die Zugfahrt überleben, zusammengepresst in deinem Notizbuch. Wenn du es dann aufschlägst, entfalten sich die Blätter. Und aus dem Stängel tropft frische Tinte. So mag ich sie am Liebsten, werde ich dir zuraunen. Die Tinte färbt deine Finger und meine Haare, aber das macht mir gar nichts aus. Es fühlt sich ein bisschen nach Meer an. Die Menschen in der Straßenbahn schauen pikiert. Sie riechen die salzige Brise nicht, sie spüren nicht das Schaukeln der Wellen.
Wir summen ein Medley aus allen Seefahrerliedern, die uns auf die Schnelle einfallen und bleiben bei Pippi Langstrumpfs Seeräuberopa Fabian hängen, was natürlich niemand außer uns kennt.
November: In meinen Aufzeichnungen entdecke ich das zerstreutblütige Vergissmeinnicht.
Ich stelle mir vor, in einem Künstleratelier zu sein. Tatsächlich habe ich zwei Lieblingsateliers. Eines, in dem ich trainiere und eines, in dem ich mich unterwerfe. Manchmal sollte ich in meinen Blogs besser schwindeln, damit danach noch jemand meine Bücher liest. In Abschieden war ich aber schon immer schlecht. Vielleicht weil sie einem andauernd in die Quere kommen. Die Endgültigkeit wird ihnen abgesprochen, die Wiederholung der Erlebnisse nahegelegt. Manchmal darf ein Abschied aber einfach ein Abschied sein. Ein Nimmerwiedersehen. Ein neuer Anfang.
Ich stelle mir vor, in einem Atelier zu sein, weil mir die Freiheit der Räume weiter scheint als die Perspektive meines Schreibtisches. Doch wenn ich nur einmal den Blick wende, funkelt und leuchtet es von allen Seiten und ich verbringe eine Weile damit, die schrillen Linien zu verarbeiten. Manchmal bekomme ich Kopfweh von dem aufdringlichen Funkeln wie von dem Geruch frisch aufgekochter Zimtrinde oder Rotwein. Dann wieder verleiten mich die Farben aufzustehen, mich im Raum zu verändern, anzuschmiegen, tänzelnde Füße. Ein kurzes Austricksen der Tastatur, bis der Text wieder nach mir greift. Das tägliche Schreiben lässt Wörter erstarken, die sich sonst nicht hervortrauen. Die Tage verkürzen sich, der Alltag verliert seine Schwere.
November: Vor mir der Laptop, ein aufgeschlagenes Schreibbuch, zwei Literaturzeitschriften, drei Kalender, ein Notizblock. Ich frage mich, wie man in diesem Chaos einen Blog schreiben kann. Ich überlege, wann das letzte Gewitter war. Ob irgendwann Schnee kommt. Welches Buch ich als Nächstes lesen soll und welche zu Weihnachten verschenken. Zuletzt verliebte ich mich in Brian Swell: Pawlowa - Oder wie man eine Eselin um die halbe Welt schmuggelt.