15.–21.04.2020
Ich hasse Kapitelüberschriften. Letzte Woche habe ich entschieden, einen Roman nicht mehr weiterzulesen, weil ich das Konzept, nach dem seine Kapitelchen benannt waren, nicht mehr ertrug. Alle paar Seiten dieser Humbug, ich hielt es nicht mehr aus.
Romane in große Abschnitte zu gliedern und diese benennen zu dürfen, ist hingegen eine Gnade. Mögliche Titel, die als Buchtitel nicht stark oder umfassend genug sind und verworfen werden, werden so vor dem Mülleimer gerettet, erhalten einen Trostpreis. Kapitelüberschriften aber verdienen keine Milde. Meist nummeriere ich Kapitel einfach durch. Bei Am Rand nannte ich jedes Kapitel gleich: Hitotsu – japanisch für „Erstens“, das trotz fortlaufender Zählung unverändert bleibt und somit die Gleichwertigkeit aller Schritte betont, der großen, kleinen, frühen, späten. Bei meinem neuen Romanmanuskript habe ich Asteriske verwendet – und zwar inflationär. Bei jedem Kapitel kam ein weiteres Sternchen dazu, am Ende waren es 42. Meine Lektorin wies mich darauf hin, dass dieses sture Verfahren ein wenig albern sei. Ich widersprach ihr nicht.
Dieser Roman ist seit ein paar Monaten fertig lektoriert und hätte Ende Juli erscheinen sollen. Dann kam der Coronafrühling, seither hat kein Plan mehr Bestand. Mein Buch wurde auf Frühjahr 21 verschoben. Es ist eine Geduldsprobe für mich, wie der Lockdown für uns alle eine ist. Lockdownwoche 5 bereits, ich glaube es kaum, wo rinnt mein Leben hin?
Im Lockdown schreibt man keine Romane. Es ist unmöglich, sich in eine fiktive Welt hineinfallen zu lassen, wenn gleichzeitig die reale immer surrealer wird. Im Lockdown schreiben alle Tagebuch. Eine Flut an Zeitberichten entsteht. Ich schreibe seit Beginn ein Logbuch im Wochentakt auf www.platzgumer.net/Logbuch. Nun übernehme ich hier eine Woche lang den Journaldienst und übe persönlich Rache an Covid-19: Ich gebe jedem Journalkapitel einen Titel, den ich aus meinem von Corona verschobenen Roman mittels des vielleicht einzigen gelungenen Kapiteltitelprinzips der letzten Jahre generiere. Mein Verlagskollege A. Geiger komponierte die Kapitel seines letzten Romans nach folgendem Muster: Er verwendete, egal wieviel Sinn es ergab oder nicht, die ersten vier, fünf Wörter des jeweils ersten Satzes und erreichte eine stimmige Kontinuierlichkeit, die weder aufgesetzt noch plump wirkte. Dank dieser Technik erhält der Zufall eine Chance.
Auf Zufälle vertraue ich immer, wenn ich nicht mehr weiter weiß. Der Zufall ist das Licht am Ende jedes Tunnels. Das ändert sich auch in Coronazeiten nicht. Ich nehme also die jeweils ersten fünf Wörter diverser Kapitel meines von Corona gestörten Romans und stelle sie meinen Journaleinträgen voran, ob es Sinn ergibt oder nicht. Dieses Virus und wie die Menschheit damit verfährt ergibt ohnehin keinen Sinn. Es ist wie unser Dasein ganz allgemein ein sinnfernes Geschehen, das irgendwann Fahrt aufnimmt, Eigendynamik entwickelt, unermesslich weit über sich hinauswächst (oder nicht) und von jedem denkwilligen Geschöpf mit Sinn gefüllt wird. Corona ist Frage, Antwort, Zeichen, Anstoß, Mahnung, Startschuss, Befreiung, Untergang, Anfang und Ende zugleich. Es präsentiert eine Rechung, macht einen Strich durch die Rechnung, stellt neue Rechnungsarten auf. Die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters. Gelinde gesagt: Es ist faszinierend, wie wir alle zum Interpretieren gezwungen sind, zum Füllen mit Sinn.
Der Titel, der sich durch den beschriebenen Pragmatismus für den heutigen Journalbeitrag ergibt, korreliert sogar mit heutigem Datum. Ein Zufall, nichts weiter.
Seit Wochen werde ich jeden Morgen um Punkt Halbacht von einem Hubschrauber aus dem Schlaf geholt, der über unserer Gegend kreist und weiterfliegt. Wäre kein Ausnahmezustand, würde mich der Wecker um 6:45 aus dem Schlaf reißen. Ich würde aufstehen und meiner Tochter Frühstück und Schuljause zubereiten. Sie würde mich, wenn überhaupt, dann unhörbar grüßen, wenn sie in die Küche kommt, wortlos das Nutellabrot und die Früchte essen, den Tee trinken und ein wenig auf ihrem Handy herumwischen, dann lang im Bad verschwinden und genau zwei Minuten, bevor ihr Bus zwei Straßenecken entfernt halten wird, hektisch aus der Wohnung rennen. Einen Monat lang hätten wir dieses Ritual noch durchhalten müssen, dann wäre ihre Maturavorbereitung losgegangen und wenige Wochen darauf ihre Schulzeit überstanden gewesen. Nun wird die Matura sogar noch etwas früher überstanden sein, weil ein Virus die Welt auf den Kopf stellt und unser Bildungsminister „milde“ sein will, und statt dem Wecker wecken mich Helikopterrotoren. Nicht länger gibt mir frühmorgens ein Teenager zu verstehen, dass er die Schule und zu dieser Uhrzeit die Welt im Allgemeinen hasst, sondern der Staat erinnert mich daran, dass er es mit der Überwachung ernst meint. Zu Beginn des Lockdowns flog der Hubschrauber zweimal täglich über uns hinweg, inzwischen hat er die Frequenz verdoppelt, morgens, mittags, nachmittags, abends, immer zu denselben Uhrzeiten, es ist wie das Läuten der Kirchturmglocken. „Strafen, strafen, strafen“, sagt der Innenminister.
Inzwischen wird per Strafzettel abgemahnt, ich aber habe noch kein Bußgeld löhnen müssen. Das öffentliche Leben lasse ich, soweit es da draußen überhaupt stattfindet, an mir vorbeiziehen. Am Tagesablauf eines Schriftstellers ändert ein Lockdown wenig. Der Staat lässt mich und ich lasse das Virus in Ruhe, wenn ich zuhause sitze und die Tastatur meines Laptops strapaziere. In Pausen gehe ich ein wenig flanieren wie früher auch. Abends: Aperitiv, Essen, Wein, Gespräche mit der Frau, die ich liebe, wie früher auch. Nebenher strapaziere ich auch die Tastatur meines Klaviers. Ich habe nahezu sämtliche Einkommensquellen verloren, Lesungen, Veranstaltungen, Theaterproduktionen, aber auf ein geregeltes Einkommen habe ich mich zum Glück nie verlassen. Die Welt, auf die wir zusteuern, wird sowieso eine von größerer Bescheidenheit sein, hoffe ich, vielleicht eine, in der Geld überhaupt eine kleinere Rolle spielt. Schon jetzt bin ich in einigen Bereichen zum Tauschhandel übergegangen.
Ich schlafe also die Dreiviertelstunde länger als sonst und gehe dann aufs Dach. Dort liege ich auf der Yogamatte und starre in den Himmel. Nur ganz vereinzelt ist hoch oben ein Flugzeug zu sehen. Ein paar Schäfchenwolken ziehen über mir hinweg. Und plötzlich kreist, aus dem Nichts gekommen, etwas großes Dunkles über mir. Ein Buteo buteo mit gewaltigen Flügeln. Der Mäusebussard segelt genüßlich in der Luft, nahe über mir, als wollte er mich beeindrucken. Ich bestaune die Flugshow, seine Krallen, den Schnabel. Je tiefer der Vogel fliegt, desto mehr frage ich mich, ob neben Mäusen auch kleine Yogis auf seinem Speiseplan stehen? Ich habe vor vielen Tieren Angst, vor Stieren, Haien, Vogelspinnen, leider auch vor Hunden. Letztes Jahr, als die präcoronische Welt noch offen stand und ich mich über Grenzen hinweg setzen durfte, wanderte ich allein in einem abgelegenen Naturschutzgebiet der kanadischen Rocky Mountains herum. Im Wilmore Wildernis Park war ich an jenem Tag wohl der einzige Mensch in einem Gebiet doppelt so groß wie Tirol. Auf knapp zweitausend Metern Seehöhe kreuzte ein Grizzlybär meinen Weg. Ich sah ihn von der Weite, der Sturm blies aus seiner Richtung, er konnte mich nicht riechen. Ich versteckte mich hinter einem Felsen. Mein Herz raste. Ich war unbewaffnet. Alle paar Minuten spähte ich hinter dem Fels hervor in seine Richtung und hoffte, er würde sich nicht nähern. Auch eine halbe Stunde, nachdem der majestätische Bär verschwunden war, wagte ich kaum, meinen Weg fortzusetzen. Ich schlotterte. Und doch: Wäre da kein Mäusebussard, sondern eine Überwachungsdrone über meiner Wohnung, es würde mich deutlich mehr erschrecken, deutlich mehr verstören. Vor nichts habe ich dermaßen Angst, wie davor, in einem autoritären Überwachungsstaat leben zu müssen.
Leider habe ich das beste Buch, das ich seit vielen Jahren in die Hand bekam, nun endgültig fertig gelesen. Lincoln im Bardo war eine unfassbare Freude, jeden Satz, den George Saunders in diese Komposition gewoben hat, wollte ich dreimal, so langsam wie möglich lesen, auskosten, so lange es geht. Und doch ist irgendwann die letzte Seite erreicht. Ein trauriger Moment. Draußen kalter Wind, wie immer Sonne, Regen gibt es praktisch nicht mehr. Die Straßen sind überraschend voll. Wenn das noch Lockdown ist, ist es gelockerter Lockdown, der die Menschen ins Freie lockt, vorallem in die Baumärkte, die nun wieder geöffnet sind und um die ich mein Leben lang einen Bogen machte. Ich bleibe lieber zuhause, in dieses Draußen gehe ich nicht.
Was soll ich bloß jetzt lesen? Dave Eggers Der Circle, um daran erinnert zu werden, wie schnell aus edlen Motiven ein totalitäres System entsteht? Science-Fiction deprimiert mich immerzu, gerade in einer Zeit, wo unsere wirkliche Welt einen panischen Satz hinein ihn die Zukunftsfiktion macht. Ich will gar nicht sehen, wohin das im schlimmsten Fall führt. Vielleicht sollte ich, ebenso passend, Marlene Haushofers Die Wand aus dem Regal ziehen? Eine ähnlich düstere Lektüre zur Zeit, da unsere Welt wie jene der Protagonistin hinter unsichtbaren Abgrenzungen zusammenschrumpft. Soll ich lieber Klavierüben, möglichst mechanisch, bis die Finger schmerzen?
Ich wähle den Weg der Passivität, es ist der naheliegendste derzeit. Ich schließe die Augen, höre Musik: Chico Buarques Construção. 1971 erschienen, gilt dieses Werk nicht nur für mich als vielleicht bestes Popalbum aller Zeiten. Und dabei ist doppelt beeindruckend, dass es mitten in der brasilianischen Militärdiktatur produziert wurde. Selbst unter den übelst vorstellbaren Umständen kann also Kunst von derartiger Eleganz entstehen. Construção wird mir immer Hoffnung schenken. Sogar in größtmöglicher Unfreiheit kann etwas erschaffen werden, das stärker und langlebiger ist als all die Unterdrückung. Chico Buarque musste seine Kritik am Militärregime dezent und poetisch verpacken, um sie an der strengen Zensur vorbeizumogeln.
Für dieses Brot, das wir essen und diesen Platz, wo wir schlafen,
Die Bescheinigung zur Geburt und die Genehmigung zum Lachen,
Dafür, mich atmen zu lassen, mich existieren zu lassen,
Gott soll es vergelten.
Für den geschenkten Schnaps, den wir schlucken müssen,
Für den Rauch und die Schande, die wir aushusten müssen,
Für die schwankenden Baugerüste, von denen wir fallen müssen,
Gott soll es vergelten.
Buarques Stimme ist der Inbegriff von Freiheit. Sogar die Generäle, die Tausende zu Tode foltern ließen, konnten nicht anders als mitzusingen, mitzutanzen. Gott soll es vergelten. Wie Gott es vergelten soll, ließ Buarque offen.
Heute eine Petitesse:
Wecker viertel vor sieben, Tochter auschecken, mich selber auschecken, mit dem Fahrrad zum Bahnhof, Rucksack und Laptoptasche passen gerade in den Korb, Schweiß, Blick auf die Uhr, Glück gehabt, Platz bekommen.
Zug erstmal halbwegs pünktlich, ein Wunder, beim Umsteigen dränge ich mich durch Menschenmassen, schiebe die anderen teils weg, damit ich meinen Anschlusszug erwische, jeder macht dasselbe, nur wenige bleiben auf der Strecke.
Im Zuginneren bilden sich lange vor Ankunft Menschenschlangen, jeder versucht, sich in eine gute Startposition zu bringen. Wir erreichen mit nur leichter Verspätung den Stuttgarter Hauptbahnhof. Endlich öffnen sich die Türen, das Wettrennen beginnt, Tausende wie ich müssen zur Arbeit. Wenn ich renne und erneut Glück habe, werde ich die S-Bahn schaffen.
Die Theaterprobe beginnt in zwanzig Minuten. Ich zwänge mich in den Wagon, mein Rucksack verklemmt sich in der Tür, Leuten blicken genervt, ich blicke genervt zurück.
Am Nordbahnhof springe ich aus dem Zug. Es hat zu nieseln begonnen. Ich muss eine Viertelstunde durch das Gewerbegebiet laufen, sechsspurige Durchfahrtsstraßen, Bauzäune blockieren Abkürzungen, die Welt ist eine motorisierte Baustelle, die Luft voller Feinstaub und Kohlenmonoxid, ich schnappe danach.
Durchnässt, verschwitzt erreiche ich das Probenzentrum. Hans, gut, dass du da bist, wie geht’s dir, werde ich gefragt. Ich umarme Kollegen, deren Namen ich nicht einmal kenne. Ich schmuse halbfremde Menschen ab, als wären sie enge Freunde. Schleichend hat diese Schmuserei seit Jahren überhand genommen.
Die Probe ist fordernd, das ist gut, die Zeit vergeht schnell. Danach wieder S-Bahn, diesmal weniger voll, Ticketkontrolle, zum Glück hatte ich Zeit, eines zu besorgen.
Ich checke im Hotel ein, das übliche Zimmer. Ich war schon so oft hier, dass ich blind jeden Handgriff verrichten kann. Ich ziehe die Vorhänge zu, damit ich nicht in die Büros des gegenüberliegenden Gebäudes starren muss. Zehn Meter Luftlinie entfernt von mir sitzt immer dieser vollbärtige Angestellte vor dem Computer. Ich bin versucht, ihn zu grüßen.
Dann hole ich ein Falafel. Die Abendprobe endet früh genug, so dass ich im Pub noch die die zweite Halbzeit einer Champions League Partie mitverfolge, die mich im Grunde nicht interessiert. An freien Tagen fahre ich nach Wien oder nach Tirol, jeden Monat fliege ich irgendwohin, auch wenn ich fliegen hasse und weiß, wie schlecht es für unseren Planeten ist. Aber zur Lesung nach Hamburg, wer will da schon mit der Deutschen Bahn? Mein ökologischer Fußabdruck ist entsetzlich.
War entsetzlich.
Seit einem Monat hetze ich nicht durch Raum und Zeit. Ich bleibe zuhause sitzen, ich denke nach, schreibe auf, musiziere, gehe spazieren. Wenn ich an das Leben denke, das ich vor dem Lockdown führte, wird mir schwindlig.
Es ist Sonntag. Für mich hat es seit meiner Schulzeit, an die ich mich nicht mehr erinnern kann, kaum einen Unterschied gemacht, ob Wochenende war oder nicht. Gearbeitet habe ich immer – oder nie, wie manche sagen. Nur waren Sonntags die Läden geschlossen. Im Lockdown löste sich sogar dieser feine Unterschied auf. Im jetzigen gelockerten Lockdown, der sich „Phase 2“ nennt, dürfte ich unter der Woche zwar „unter Einhaltung strenger Vorsichtsmaßnahmen“ wieder einkaufen gehen, aber das tat ich bereits in Präcoronia so selten wie möglich. Mit Maske, unter der ich zu wenig Luft bekomme und wegen der meine Brille beschlägt, fühlt sich Shoppen eher wie Waterboarding an, ich reduziere es auf das Nötigste.
Lieber sitze ich zuhause und tippe Wörter in ein Textprogramm, die im Endeffekt einen Roman oder ein Essay oder sonst irgendetwas ergeben werden. Früher schrieb ich oft auch während langer Zugfahrten, in Flughafenterminals oder in mehr oder weniger kargen Hotelzimmern. Diese Zeiten sind vorbei. Früher schrieb ich manchmal auch mit Bleistift, Kugelschreiber oder mit einer eleganten Füllfeder, weil ich meinte, das müsste beim Schriftenherstellen so sein. Nur auf einer Schreibmaschine habe ich nie aus schriftstellerischen Ambitionen heraus herumgepfuscht.
Als Kind war ich freilich begeistert von solch einer Wundermaschine. Ich testete, wie leicht oder fest man anschlagen musste, um Buchstaben in unterschiedlicher Stärke aufs Papier zu drucken. Ich testete, wie schräg man das Papier einführen konnte, ohne dass es staute, testete, ob man auch zerknittertes Papier oder andere Materialen, Ahornblätter etwa, verwenden konnte. Am meisten beeindruckte mich die magische Löschtaste, die ich gebrauchte, bis das Korrekturband aufgebraucht war. Meine Mutter weigerte sich, ein neues zu kaufen. Das sei kein Spielzeug, sagte sie.
Letzte Woche hat meine Tochter die alte Schreibmaschine ihrer Großmutter ausgeliehen. Sie tippt darauf Briefe, die sie liebevoll in Kuverts verpackt, auf die Post bringt und an ihre Freunde schickt, Freunde, die teils in derselben Stadt wohnen, Freunde, mit denen sie über soziale Medien praktisch minütlich kommuniziert. Über die Schreibmaschine hält sie analogen Kontakt zu ihnen. Wenn sich (junge) Menschen nur mehr in pixeligen, ruckeligen Bildschirmauflösungen sehen und nur mehr mit digital entstellten, robotisch verzerrten Stimmen unterhalten können, erlebt das Papier eine zarte Renaissance. Die Freunde meiner Tochter halten, ein paar Tage zeitversetzt, denselben Briefbogen in der Hand, den auch sie in der Hand hielt. Diese Art der Berührung ist uns aus virologischer Sicht nach wie vor erlaubt. Wer weiß, wie lange noch? Stellt ein Infektiologe fest, dass sich Coronaviren tagelang auf papierner Oberfläche halten, wird auch diese Art der Sinnlichkeit Vergangenheit werden.
Vielleicht erlebt dann das E-Book endlich den Höhenflug, der ihm bislang versagt blieb? Die Buchverkäufe sind mit der Coronakrise um 80 Prozent eingebrochen. Jetzt wäre die Stunde des E-Books gekommen, um den Markt zu retten. Doch es scheint, als wollen wir am Haptischen festhalten, lieber aus Papier oder gar nicht.
Ich stelle die Schreibmaschine auf meinen Tisch. Es ist kein wirklich altes Unding, sondern eine elektrische aus den 1980er-Jahren, eine Brother CE-60. Ich stecke den Stecker in die Steckdose. Ich spanne ein leeres Blatt Papier ein. Festgezurrt liegt es vor mir und wartet. Und wartet. Ich weiß nicht, was ich schreiben soll. Auf Befehl fällt mir nie etwas ein. Ein leeres Blatt Papier jagt einem noch mehr Angst als ein leeres Word-Dokument ein.
Dann überwinde ich mich. Ich tippe:
Wer nie vom Weg abkommt, bleibt auf der Strecke.
Ich weiß nicht, von wem dieses Bonmot ist. Ich wünschte, es wäre von mir.
Heute wäre Adolf Hitler 131 Jahre alt geworden. Es gibt sicherlich genügend Idioten, die auf seinen, wenn auch unrunden Geburtstag anstoßen. Ein Glück, dass sie locked down sind. Müssen sie per Zoom oder Houseparty sich und ihrem Führer zuprosten. Das Saufen allein vor dem Bildschirm ist eine Tugend geworden, die uns, auch wenn irgendwann die Gaststätten wieder öffnen, wohl noch lange erhalten bleiben wird. Ich kann mich nicht damit anfreunden, heute aber hat diese neue Art der Geselligkeit etwas Gutes: Jeder Trinkspruch zu Hitlers Ehren wird aufgezeichnet. Was immer auf digitalen Housepartys gesagt, gezeigt, getan wird, es ist nachverfolgbar, es geht automatisch in den Besitz des Herstellers Epic Games über, der alles mitschneidet und frei darüber verfügt. Er lässt es von Marketing Tools auswerten oder verkauft es, falls er Interessenten findet. Bei einem Video Streaming Social Networking App kann ich die Kamera meines Laptops nicht überkleben oder die Toneingabe ausschalten. Dann könnte ich zwar nach wie vor Dosenbier trinken und die anderen beim Chatten beobachten, mich selber aber nicht mehr einbringen. Es wäre einfach Voyeurismus. Der wird sicherlich oft genug betrieben, ist aber nicht gerade social.
Ich trinke zwar gern Bier, aber niemals vor dem Laptopmonitor. Das passt nicht zusammen. Ich will die Trennung zwischen digitalem und wirklichem Sein möglichst wenig aufweichen. Die Idee der transhumanistischen, technologischen Singularität liegt mir fern. Ich will keine Superintelligenz, ich liebe Fehler. Trotzdem bediene ich mich ständig digitaler Hilfsmittel, ich browse durchs www, editiere Texte, bearbeite Bilder, erzeuge Klänge mit virtuellen Instrumenten, schreibe Mails, erstelle Websites. Nur getwittert habe ich noch nie. Das sei anderen überlassen, die damit genügend Schaden anrichten.
Biertrinken gehört in meine wirkliche Wirklichkeit. Der erste Schluck ist immer der Beste. Und nach zuviel Schlucken bekomme ich Kopfschmerzen, die sich sehr wirklich anfühlen.
Trete ich hinaus in die mich wirklich umgebende, wirklich begreifbare Welt, lasse ich das Handy zuhause liegen. Ich bestaune ein Österreich ohne Touristen. So etwas habe ich noch nie erlebt. Grenzen, die so dicht sind, dass keine Urlauber sie durchbrechen, das schafft nur der Lockdown.
Ich wandere in Wälder hinein. Ich trage keine Maske, wie andere es tun, die sogar allein im Wald mit Mund-Nasen-Schutz herumlaufen. Ich atme tief, so tief es geht ein. Die Pollen der Birke, die zur Zeit alles mit gelblichem Staub bedecken, verursachen einen Hustenreiz. Gerade die Birke, die ich am liebsten mag, vertrage ich am Schlechtesten. Doch es ist bloß eine leichte Allergie, kein Covid-19.
Bäume gehören zu meiner Common-Sense-Realität. Ich berühre die Rinde. Sie ist trocken wie der Boden unter mir. Es raschelt wie ausgedörrtes Stroh, wenn ich einen Schritt vor den anderen setze. Der Niederschlag ist wie der Buchhandel in Österreich in diesem Monat um 80 Prozent zurückgegangen. In manchen Orten Österreichs hat es das ganze Jahr noch keinen Niederschlag gegeben. Gibt es auch Orte, in denen das ganze Jahr kein Buch gekauft wird?
Diese Vorstellung erschreckt mich. Der Verlust des Geistes und das Austrocknen der Welt machen mir Angst, mehr Angst als das Coronavirus. Macht die Menschheit stumpf weiter so, als wäre nichts geschehen? Ein Sommer ist trockener, heißer, ein Winter kürzer als der vorige. Im April brennen schon die Wälder, auch die kontaminierten rund um den Sarkophag Tschernobyls. Allem stehe ich hilflos gegenüber.
Ich resigniere, kapituliere, gebe auf.
Heute ist der letzte Tag dieses Journals, und wenn es überhaupt mein letzter wäre, so wäre mir das auch egal. Es gibt Momente, da entschwindet jede Hoffnung. Meistens sind es Kleinigkeiten, die den Ausschlag geben, irgendein Signal, von dem ich eine Konsequenz ablese, die mich bedrückt. Nicht das Jetzt bedrückt mich, sondern ein Morgen, in das dieses Jetzt führen könnte. Das ist dumm, aber ich komme manchmal nicht mehr los von einer unheilvollen Vorstellung. Es ist der Fluch des Schriftstellers, dass er sich in Ideen verrennt. Wie die Wirklichkeit bauscht sich etwas vor ihm auf, das im Grunde nur ein Hirngespinst ist.
Meine Gefühle kleben an der Oberfläche meiner Haut. Ich müsste immer Schutzkleidung tragen. An Tagen wie heute aber bin ich nackt. Ohne jegliche Resilienz. Alles bricht zusammen. Vorzugsweise an einem strahlenden Sonnentag. Wolkenloser Himmel, die Sonne brennt schon in der Früh herunter als wäre Mittagshitze, gnadenlos, und ich weiß, sie wird das bis abends tun, ohne Rücksicht zu nehmen. Ich bin ihr und allem, was kommen möge, wehrlos ausgeliefert.
Ich verkrieche mich ins Arbeitszimmer. Muss das Fenster verdunkeln, denn die Sonne grinst mir ins Gesicht. Ich setze den Bose Noise Cancellation Kopfhörer auf. Er schaltet die Umgebung für mich aus. Während des Lockdowns habe ich ihn nicht gebraucht, jetzt aber ist das da draußen kein Lockdown mehr, da brummt wieder alles, was brummen kann. What a beautiful noise, hat Neil Diamond es genannt, und er hat immer Texte geschrieben, bei denen man sich an den Kopf greifen musste und hoffte, man hätte sich verhört.
Dort draußen bekommt die Regierung langsam Angst vor sich selber. Allmählich beginnt das große Zerfleischen. Noch bevor jemals eine Impfung gefunden sein wird, wird es diese Regierung und diese torpedierte Europäische Union nicht mehr geben, denke ich. Morgen denke ich vielleicht anders, vielleicht bekomme ich einen positiven Impuls. Alles ist möglich bei mir Schmetterlingsmensch. Heute kann ich nur Verlierer in der Welt sehen und daneben zwei Gewinner: Bezos und die Borkenkäfer. Das klingt wie der Titel eines Kinderbuchs. Muss ich mir merken. Der eine ist der reichste Mensch der Welt, Jeff Bezos Vermögen stieg dank Corona um weitere 25 Milliarden Dollar. Er ist too big to fail. Die anderen fallen dank immer idealeren Bedingungen in unsere Wälder ein und bringen dort alles zu Fall. Es ist die Zeit der dunklen Mächte dort draußen in der Welt. Und ich sitze in meiner eigenen Dunkelheit. Ich sollte das Kaiserwetter ausnützen, anstatt hier drinnen herumzutippen, was ja doch kaum jemand liest. Lieber, mir von der Sonne die Gedanken aus der Birne brennen lassen, als ihnen nachzuspüren. Doch ich entscheide mich für Zweiteres. Ich stelle mich meinen Dämonen. Sie wollen mich dorthin ziehen, wo alles eine Sackgasse ist. Ich aber leiste Widerstand.
Ein Künstlerfreund meinte vor ein paar Tagen, dass für unsereins Corona das beste Mittel gegen Prokrastination sei. Man verdient zwar nichts mehr, dafür schiebt man auch nicht mehr alles auf. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber es stimmt. Man steht mit dem Rücken zur Wand und schlägt um sich, nimmt zur Hilfe, was man hat, den Pinsel, den Schreibstift, die Gitarre, von mir aus. Man überschwemmt die Welt mit online Coronakunst, aus einer Verzweiflung heraus. Kunst entsteht immer aus Verzweiflung. Sie tritt gegen das Unheil an. Wir Künstler sind die Kapelle auf der Titanic, wir spielen, während unser Schiff untergeht. Weil wir nicht anders können.
Ich weiß nicht, was ich mehr verabscheue, Happy Ends oder deprimierende Enden.
Ein Happy End ist lächerlich, ein deprimierendes deprimierend. John Williams Stoner findet das auswegloseste Ende, das ich mir vorstellen kann. Es ist verantwortungslos, ein großartiges Buch so enden zu lassen. In meine Romanen wähle ich meist interpretierbare Enden. Ich mag es, wenn Sachen offen, Möglichkeiten bestehen bleiben. Alles ist ja immer bloß ein Zwischenstand. Das ist die Wahrheit. Die Wahrheit ist ein Trost, denn sie heißt: Ich weiß es nicht.
Das sage ich laut vor mich hin. Dreimal. Mit jedem Mal geht es mir ein wenig besser. Ich höre, ich verstehe, ich glaube mir, was ich da sage. Ich hatte mich verschlossen. Nun aber öffne ich mich wieder.