Anton Thuswalder (Hrsg.), „Mein Proust-Moment. Was die Erinnerung großer Autorinnen und Autoren zum Blühen bringt,“

Anton Thuswaldner (Hg.) – Mein Proust-Moment

Anton Thuswalder (Hrsg.), „Mein Proust-Moment. Was die Erinnerung großer Autorinnen und Autoren zum Blühen bringt,“

09.02.2022

in Zusammenarbeit mit Silke Dürnberger und Mona Müry

Anton Thuswaldner (Hg.) – Mein Proust-Moment

Im Sommer nach meiner Matura wohnte ich bei der Gräfin Anne de Martel in der Rue Jean de la Fontaine im 16. Pariser Arrondissement. Ich war Au-pair-Mädchen in der Familie ihres Sohnes, lieh der alten Gräfin allmorgendlich mein höfliches Ohr, wenn sie von den jüngsten Ereignissen im Umfeld des von ihr verehrten Papstes Johannes-Paul II. berichtete, sagte „Bonjour, Madame“, „Au-revoir, Madame“, „Merci, Madame“ und sprach mit ihr nicht von den kommunistischen Intellektuellen, wie es mir ihre Schwiegertochter ans Herz gelegt hatte. Eines Tages kaufte ich in einer Pâtisserie am Marché Saint-Germain Makronen, deren unwirklicher Preis mir ein länger andauerndes Bauchkribbeln bescherte – und in meiner Erinnerung eine erste Begegnung mit Marcel Proust. Bei der späteren gemeinsamen Nachmittagsjause rief die Gräfin nämlich erfreut „Ah! Dorissse, des macarons de chez Gérard Mulot“ und fügte, noch bevor sie kostete, hinzu „Ah! quelle madeleine de Proust“. Madeleine war natürlich ein französischer Mädchenname. Oder auch ein Rührteigbiskuit in Muschelform, wie ich seit Kurzem wusste. Aber was in aller Welt bedeutete „proust“? Ich konnte die Gräfin nicht fragen, denn sie sprach bereits von einer anderen Zeit, verlor sich in Erinnerungen an die glücklichen ersten Jahre ihrer Ehe. Und so sollte für mich die Bedeutung von Proust noch fast ein Jahr lang im Dunkeln bleiben. 

Den von Anton Thuswalder in Zusammenarbeit mit Silke Dürenberger und Mona Müry in Mein Proust-Moment versammelten Madeleine-Erlebnissen und Reflexionen (von Martin Walser, Bernd-Jürgen Fischer, Alexander Kluge, Anna Baar, Jens Wonneberger, Anna Kim, Christina Maria Landerl, Julya Rabinowich, Peter Kümmel, Eleonora Hummel, Daniel Wisser, Reinhard Stöckel, Elke Laznia und Josef Winkler) verdanke ich nicht nur die Wiederbelebung meiner ins Vergessen entschwundenen ersten Schokolademakronenerfahrung, sondern auch einen der unvergesslichsten Lektüremomente dieses Herbstes. Entlang begehrlicher Gerüche und trauriger Düfte, berauschender Aromen und unverwechselbarer Konsistenzen, tödlicher Klänge, Wermutkraut oder einer„Kombination aus Gras-Noten, einer Spur Säure und einem Hauch Vanille“ (99) – so beschrieben nach Reinhard Stöckel englische Wissenschaftler den muffigen  Geruch alter Bücher – entfalten die von den Autor*innen so meisterhaft erzählten Einblicke in längst vergangene Sinneserfahrungen einen Zauber, dem man sich so einfach nicht entziehen kann und schon gar nicht will. Retrotopische Augenblicke des Banalen – von  Martin Walser in seinem Text als „unscheinbare Situationen des Alltags“ bezeichnet und für ebenso wichtig erachtet „wie irgendeine Festwoche voller Metaphysik“ (15) –, die in ihrer sprachlichen Präzision und Schönheit Proust alle Ehre machen und uns daran erinnern, dass gerade in Zeiten wie den unseren „[d]as Lesen […] wie das Atmen eine essentielle Lebensfunktion“ ist (so Alberto Manguel in Eine Geschichte des Lesens).

Am Ende des Buches sind die Leser*innen aufgefordert, den Proust-Momenten der großen Autorinnen und Autoren auf dafür vorgesehenen leeren Seiten ein persönliches „unmittelbare[s], köstliche[s], alles erfassende[s] Aufzucken der Erinnerung“ (Die wiedergefundene Zeit) hinzuzufügen. Eine wunderbare Einladung, der man gerne folgt.

Anton Thuswalder (Hrsg.), Mein Proust-Moment. Was die Erinnerung großer Autorinnen und Autoren zum Blühen bringt, in Zusammenarbeit mit Silke Dürnberger und Mona Müry, Salzburg/Wien: müry salzmann, 2021.

Tipp von Doris Eibl

Die Anthologie Mein Proust Moment hätte, am 7. Dezember im Literaturhaus am Inn präsentiert werden sollen. Stattdessen „nur“ die Lese-Empfehlung.
Neuer Präsentationstermin ist Mittwoch, der 9. Februar – save the date!

Literaturhaus am Inn – Lieben, Sprechen, Fühlen, Genießen
Josef-Hirn-Straße 5
6020 Innsbruck

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